„Genauso gefährlich wie vor dem 11. 9.“

Internationale Terrorismusexperten wie beispielsweise vom Londoner „Internationalen Institut für Strategische Studien“ sind sich sicher: Al-Qaida lebt und gedeiht – als „virtuelle Einheit“ unzähliger lokaler Strukturen

BERLIN taz ■ Mit jedem neuen Anschlag werden sich die internationalen Terrorexperten sicherer: Al-Qaida ist nicht nur immer noch vorhanden, sondern stärker und wendiger als gedacht. Das renommierte Internationale Institut für Strategische Studien (IISS) in London kam letzte Woche bei der Vorstellung seines Jahresberichts zur Sicherheitslage der Welt gar zu dem Schluss, das Terrornetz sei heute „heimtückischer und genauso gefährlich wie vor dem 11. September“. Es handele sich um eine „mächtige transnationale Terrororganisation, deren Zerlegung eine Generation dauern könnte“. Als diese Worte geschrieben wurden, waren die jüngsten Anschläge noch gar nicht passiert.

Das IISS versteigt sich in seiner Einschätzung nicht zu wolkigen Bedrohungsanalysen, sondern hält sich an nüchterne Fakten. Seit dem Beginn des internationalen „Krieges gegen den Terror“ in Folge der Anschläge vom 11. September 2001 seien weltweit etwa 2.700 mutmaßliche aktive Terroristen festgenommen und 2.000 weitere Sympathisanten und Unterstützer al-Qaidas getötet worden; zehn „hochrangige Führer“ seien in Gewahrsam oder tot. Es blieben etwa 20 Führer und 18.000 mögliche Terroristen übrig – kalkuliert auf der Grundlage der Gesamtzahl all jener Islamisten aus der ganzen Welt, die durch al-Qaidas einstige afghanische und pakistanische Trainingslager gegangen sind.

Geografisch lokalisierbare Militärstützpunkze brauche al-Qaida nicht mehr, so die IISS-Analyse weiter. Es genüge, dass Absolventen der mittlerweile zerschlagenen Trainingscamps in ihren jeweiligen Heimatländern weiter arbeiteten. „Die einzige physische Infrastruktur, die al-Qaida braucht, sind sichere Häuser zum Bau von Bomben und Waffenlager. Ansonsten machen es Computer, Verschlüsselungstechniken, das Internet, mehrfache Pässe und die Leichtigkeit globalen Transports al-Qaida möglich, als virtuelle Einheit zu funktionieren, die durch die Koordination vieler ‚Dschihad-Felder‘ lokale Strukturen – also lokales Wissen – zum maximalen Vorteil nutzt.“ Und wenn dabei immer wieder Aktivisten festgenommen oder getötet werden, rücken immer andere nach.

Auch das Fehlen eines direkten Zusammenhangs zwischen dem gestürzten Regime von Saddam Hussein und al-Qaida mache die Lage nicht besser, führte Jonathan Stevenson vom IISS bei der Präsentation des Berichts aus. „Obwohl Bin Ladens Versuch fehlschlug, zwischen Unterstützern al-Qaidas weltweit und dem irakischen Volk gemeinsame Sache zu machen, weil die meisten Irakis die amerikanischen und britischen Truppen begrüßten, mag dies einfach bedeuten, dass es länger dauert, tatsächliche Terroranschläge vorzubereiten. Ein starker Feldzug gegen den Terror wird über Jahre absolute Notwendigkeit bleiben.“

Der US-Geheimdienst hat eine etwas andere, aber nicht viel optimistischer stimmende Lesart des Zustands von al-Qaida. Nach einem Bericht der New York Times von Samstag gehen Antiterrorexperten der US-Regierung davon aus, dass die Mitgliedschaft des Netzwerks von 20.000 auf unter 3.000 geschrumpft ist. Allerdings habe al-Qaida in den letzten Monaten neue Militärlager im Sudan und vielleicht in Kenia errichtet. Diese beiden Länder gehören zum Aktionsradius der ersten ständigen US-Militärbasis in Afrika, die am Samstag in Dschibuti eröffnet wurde. Für die gesamte Region sind derzeit extrem hohe Sicherheitswarnungen in Kraft.

Schon im September 2002 hatte das nach den Anschlägen des 11. 9. 2001 gebildete Antiterrorkomitee des UN-Sicherheitsrates (CTC) in einer Bilanz zum Jahrestag der Terroranschläge al-Qaida „gesund und munter“ genannt, „bereit, erneut zuzuschlagen, wann und wo es will“. Das CTC ist für den UN-koordinierten, also nichtmilitärischen Teil des internationalen „Krieges gegen den Terror“ zuständig. Auf Grundlage der entsprechenden UN-Resolutionen und der Arbeit des Komitees wurden bis Anfang Mai weltweit 134 Millionen US-Dollar an mutmaßlichen „Terrorguthaben“ eingefroren, lobte der UN-Botschafter der USA, John Negroponte, bei einer Sicherheitsratssitzung zum Thema am 6. Mai. Doch 110 der 134 Millionen Dollar wurden vor Jahresende 2001 eingefroren.

Zunehmend unklar wird bei solchen Analysen, was Terror eigentlich ist, welche Gewaltanwender als Terrorist zu gelten hat und welcher nicht und was für Gruppen als Teile al-Qaidas gezählt werden sollten und welche nicht. Spaniens Premierminister José María Aznar nannte im Sicherheitsrat am 6. Mai anlässlich der Übernahme des CTC-Vorsitzes durch Spanien – bisher hatte Großbritannien das Komitee geleitet – die Aufstellung einer weltweit gültigen Liste terroristischer Organisationen als nötige Maßnahme zur Stärkung des Kampfes gegen den Terror. Der britische UN-Botschafter Jeremy Greenstock sah das skeptisch und meinte, erst einmal müsse die UN-Vollversammlung eine weltweit gültige Definition von Terrorismus verabschieden. Die aber wird es wohl erst geben, wenn es keine Terroristen mehr gibt. DOMINIC JOHNSON