Starke Frau, wartend

Sibylle Dudek definiert Elektra, Protagonistin ihrer Diplominszenierung auf Kampnagel, als starke Frau. Trotzdem wartet sie dekadenlang auf Bruder Orest, damit der die ersehnte Rache nehme

von KATRIN JÄGER

Elektra (Jana Schulz) wippt zum Takt des Schlagzeugs (gespielt von Derek Scherzer), grimassiert das mit Kreide verschmierte Gesicht, wirft den Kopf hin und her. Stampft wild auf und skandiert, mit den Trommelschlägen lauter und lauter werdend: „Orest, Orest, Orest, Orest“. Ein Fluch, ein rituelles Bitten und gleichzeitig ein ausgelassener Totentanz. Denn besagter Bruder Orest (Björn Gabriel) tötet just in dem Moment die verhasste Mutter Klytaimnestra im Off, als Elektra in Ekstase gerät.

Elektra als Power-Butch, das kommt gut in der Diplominszenierung von Sybille Dudek auf Kampnagel. Denn Jana Schulz macht von Anfang an klar, wo hier die Kraft liegt. Ihrem angestauten Ärger über Klytaimnestras Mord an ihrem Gatten Agamemnon, Elektras Vater, macht sie Luft, indem sie die vier Schiefertafeln auf der Bühne vollkritzelt: „Leben schmerzt“, „Krieg ist ein Ritual der Reinigung“, „Wiederholung ist die beste Art des Lebens“. Die Tafeln von Bühnenbildnerin Annette Haunschild bilden die Wände zwischen dem Mutterpalast und dem Bereich davor, in dem Elektra haust: ausgestoßen, verwahrlost, wie ein sprungbereiter Wachhund. In regelmäßigen Abständen bricht ihr die Kreide aus der Hand, so starkt drückt Elektra beim Schreiben auf. Die Kreidereste schleudert sie auf den Boden, schmiert sie in ihr abgerissenes Sweat Shirt, rauft sie in ihre kurzen Haare. In ihrer Wut angelt sie sich ihre farblose Schwester Chrysothemis (Nadja Dankers), schleppt sie in die Mitte der Bühne, um dann, hinter ihr kauernd, an deren Ohr zu nippen und sie zur Verschwörung gegen die Mutter zu bewegen.

Sibylle Dudek beweist Mut, die Elektra mit dieser unorthodoxen Powerfrau zu besetzen und differenziert erfrischend zwischen den drei Frauenfiguren: Butch, Femme und die Mutter (Sabine Falkenberg), auch stark, auch eigenwillig, aber dabei weiblich und ihrer adeligen Abstammung treu: unnahbar, gefasst, kalt. Sie hat ihren Ehemann zusammen mit ihrem Lover Aigisthos um die Ecke gebracht. Der Grund: Agamemnon hatte die gemeinsame Tochter Iphigenie zu Beginn des Trojanischen Krieges geopfert. Hatte Klytaimnestra daher nicht das Recht zum Gattenmord? Tritt Elektra in ihrem Mutterhass nicht blind in die Fußstapfen ihres mörderischen Vaters?

Für diese grundsätzliche Frage nimmt sich Dudek zu wenig Inszenierungsraum, nämlich nur in einer einzigen starken Szene, als Mutter und Tochter ihre Standpunkte und ihre wechselseitige Hassliebe formulieren. Wie ein kleines Kind kniet Elektra plötzlich hinter der Muter, klammert sich an die, schwingt sich wie zu einer zweiten Geburt zwischen deren Beinen nach vorn. Klytaimnestra verzerrt das Gesicht. Ein Ersatz für die Tränen, die sie, gelähmt, nicht herausbringt.

Bei aller Intensität gibt es allerdings einen kardinalen Widerspruch in Sibylle Dudeks Inszenierung: Elektra könnte ihrer physischen und willentlichen Stärk nach die Mutter ohne Probleme selbst töten. Aber sie wartet zwanzig Jahre lang, der sophoklesschen Textvorlage entsprechend, auf ihren Bruder Orest, damit der das Ding dreht. Dudeks Orest macht nun aber eher den Eindruck eines Büroangestellten als den eines Kriegshelden und Muttermörders. Doch: Er ist der Mann und damit per Geschlecht handlungsbefugt, da folgt Dudek dem alten Sophokles willig. So muss auch ihre Elektra den Weg in den Wahn nehmen, wie schon in so vielen Inszenierungen zuvor.

Zum Schluss drängt der Büroangestellte Orest seine Schwester verächtlich zur Seite. Dass die Power-Elektra sich das gefallen lässt, kann nur die lange Bühnentradition begründen, nach der rebellische Frauen früher oder später abtreten müssen, um gesellschaftliche Normen nicht zu gefährden.

Weitere Vorstellungen: 20.+21.5., 19.30 Uhr, Kampnagel