Die gefühlte Zeit

In der Schaubühne am Lehniner Platz las Gregor Hens aus seinem neuen Roman „Matta verlässt seine Kinder“ – in voller Länge und unterstützt von drei Schauspielern. Für das Publikum der Marathonlesung: eine Geduldsprobe

Das Grüppchen, das am Samstagabend zur Lesung von Gregor Hens in die Schaubühne kommt, wird von Mitarbeitern persönlich in das „Studio“ gebracht. Auf der gegenüberliegenden Seite des Theaterhauses wird es, durch ein Tor geleitet, treppauf in den kleinen Theatersaal geführt.

Die Bühne ist kahl, nur mit Holzstuhl und Tisch bestückt. Das riecht nach Understatement. Aber diese Bescheidenheit passt so gar nicht zu dem Vorhaben von Gregor Hens: Dessen neuer Roman „Matta verlässt seine Kinder“ wird vom ersten bis zum letzten Satz von ihm selbst und drei Schauspielern vorgelesen.

Klingt anstrengend? Ist anstrengend. Wer bis zum Ende durchhält, dem schmerzen die Pobacken.

In schwarzem Pulli und Jeans tritt Gregor Hens auf die Bühne und steigt direkt in die Geschichte ein. Das Motiv der Einleitung, der fest hängende Minutenzeiger der Wanduhr im Warteraum der Pakistanischen Botschaft, wird zum Leit- und Leidmotiv der Zuhörer: Die Zeit, die nicht vergeht. Auf einmal versteht man Ingeborg Bachmanns Worte „Die gestundete Zeit“ neu.

Aber die Besucher sind interessiert. Geräuschlos lauschen sie den Worten von Gregor Hens. Der stolpert über seine eigenen Sätze, wird dort laut, wo sich kein Höhepunkt anbahnt, und leise, wo keine Spannung abschwillt.

Die Geschichte über Karsten Matta ist simpel. Er ist vierzig und befindet sich in einer Sinnkrise, schmeißt seinen Job als Berichterstatter aus Krisengebieten, verlässt Frau und Kinder, um seine schwedische Geliebte in Hamburg zu treffen. Matta ist einer, der mit sich und seiner Welt brechen will und es doch nicht schafft. Das erklärt auch die vielen Fäkalausdrücke im Buch: „Fuck Karatschi. Arschloch. Drecksland. Scheißkerl. Scheiße.“ Aber selbst die nimmt man Karsten Matta nicht ab. Zu konstruiert, zu trocken ist die Geschichte. Zudem nerven unreflektierte Vergleiche wie die der Sicherheitsschleuse in der Botschaft mit Gaskammern.

Den zweiten Teil des Romans liest Cathleen Gawlich, viel angenehmer als Gregor Hens. Es ist, als lausche man einem Hörstück zu Hause im Wohnzimmer. Leider steigert das nicht die Qualität der Geschichte: Matta trifft seine Geliebte in Hamburg. Nun wird es peinlich. Matta hat „eine dunkelrote Erektion“ und Malin, die Schwedin, fordert ihn auf: „Fuck me soldier.“ Dann „vollendeten sie es langsam und zärtlich“. Puh.

Nach jeder Pause sind mehr Plätze frei. Es ist auch zu verlockend, nach dem Gang zur Toilette in das Hauptgebäude nicht mehr den Weg zurückzumachen, wo man doch schon auf der Straße ist. Die Attraktion des Abends findet sich ausgerechnet auf der Schaubühnen-Toilette: Zwei halbwüchsige Lolitas, so aufgebrezelt, als hätten sie gleich einen Bühnenauftritt, arbeiten eifrig an ihrem Make-up.

Um den dritten Teil des Romans bemüht sich der Schauspieler Felix Römer. Mit seinem ganzen Körper liest er vor, doch die Geschichte plätschert dahin.

Noch zwei Pausen stehen bevor, dann ist es vollbracht. Mit ihrer sonoren Stimme übernimmt Agnes Mann die Fortsetzung: Karsten und Malin schleichen sich als Gäste in eine Hochzeitsgesellschaft und verursachen ein Desaster. Das Gasthaus brennt ab. Danach fliehen sie, und Malin versteckt sich im Wald vor dem volltrunkenen Matta, der ihr furchtbare Angst einjagt. Obwohl das Sitzen schmerzt und in der Pause keine Getränke mehr verkauft werden, hält ein tapferer Kern zu Gregor Hens. Irgendetwas muss ja noch kommen.

Und tatsächlich kann zumindest das Ende des Romans ein wenig versöhnen. In Stakkatosätzen wird ein Unfallprotokoll vorgetragen. Matta ist verunglückt. Doch unklar bleibt, wie viel der Geschichte einzig seiner Fantasie entspringt. Der Roman endet mit: „So ein Satz.“ So ein Ende! Aber immerhin: ein Ende.

ANDREA EDLINGER