Der Joker jubelt, bevor er sticht

Erik Zabel freut sich schon über den Sieg bei Mailand–San Remo, den ihm aber doch noch der Spanier Oscar Freire vor der Nase wegschnappt. Für den Mann von der Telekom ist das ärgerlich, aber auch Platz zwei zeigt ihm, dass er auf gutem Wege ist

VON MIRJAM FISCHER
und FRANK KETTERER

Man hätte es einfach lassen sollen. Wer bei Mailand–San Remo Wetten abschließt, ist selbst schuld, man sollte das niemals tun. Auch dann nicht, wenn alle Vorzeichen für Alessandro Petacchi sprechen. Es nützt am Ende nämlich nichts, wenn einer die stärkste Mannschaft hat, aber ein anderer gewitzter ist. Oscar Freire war am gewitztesten. Der spanische Exweltmeister kann extraordinär beschleunigen, das wusste man – und er hat auf der Zielgeraden im richtigen Moment das richtige Hinterrad erwischt, nämlich das von Supersprinter Petacchi. Also: raus aus dem Windschatten und rechts an Petacchi vorbei. Der Italiener hatte sich schlichtweg verrechnet. Fünf Helfer auf den letzten beiden Kilometern, keiner sonst hat sich diesen Luxus gegönnt – und dann wagte er sich doch zu früh alleine in den Wind. „Der Speed hat nicht gereicht“, sagte Petacchi später, als er Vierter geworden war, gleichmütig. Wobei: Ein bisschen geärgert wird er sich schon auch haben.

Jede Menge Grund dafür hatte hernach auch Erik Zabel. Der schnelle Mann aus Unna hatte auf der Via Roma bereits siegestaumelnd die Arme in die Höhe gerissen. Und man darf getrost davon ausgehen, dass er so etwas Dummes nie wieder tun wird. Der Mann im deutschen Meistertrikot hatte nach 294 Kilometern zwar Petacchi und auch den australischen Spurtspezialisten Stuart O’Grady überholt, sich dann aber doch zu früh darüber gefreut. Freire jedenfalls war klug genug, sein Tagwerk nicht vorschnell zu beenden, sondern schmiss Kopf, Schulter und Brustkorb über den Lenker und drückte das Vorderrad mit Schwung als Erster über die Ziellinie – und damit auch vor dem jubelnden Zabel. Es war Zentimeterarbeit – und es war ein wirklich spektakuläres Fotofinish, an das wohl auch der Deutsche noch lange denken wird, wenn auch mit ungutem Gefühl. Der Quatsch auf der Zielgeraden hat ihn nämlich um eine Fingerbreite Asphalt den Sieg gekostet. Es wäre der Fünfte seiner Karriere auf der Via Roma gewesen.

Andererseits wohnt den Ereignissen auf den letzten Zentimetern durchaus auch Positives inne für Erik Zabel: Gegen Freire hat er zwar verloren, okay, aber zumindest gegen Petacchi und O’Grady hatte er sich durchsetzen können – und das ist nun wirklich kein schlechtes Signal für den Fortlauf der Saison. Denn vor allem Petacchi war es, der Zabel bei der letzten Tour de France ein ums andere Mal die Show gestohlen hatte, was nicht nur ziemlich unschön für den sechsfachen Gewinner des grünen Trikots war, sondern gar Zweifel an seiner prinzipiellen Sprintfähigkeit hatte aufkommen lassen. Zabel ist jetzt 33 – bei Misserfolgen wird da flott geschrieben, dass einer wohl zu alt geworden sei, um noch richtig schnell sein zu können. Mehr noch: Als die Rückkehr Jan UIlrichs zu den Telekoms feststand, wurde auf dem Boulevard gar die Frage aufgeworfen, ob in der Tour-Mannschaft des Teams T-Mobile überhaupt noch Platz sei für den schnellen Erik.

Wenigstens dieses Thema ist vom Tisch, Ullrich selbst hat sich für den Kollegen stark gemacht. Zabel wird die Tour fahren, auch wenn er jetzt schon weiß, dass es in diesem Sommer noch schwerer werden dürfte, eine Etappe zu gewinnen, als im letzten. „Wir haben ja gar nicht die Mannschaft für ein Sprintfinale bei der Tour“, sagt Zabel. Die Mannschaft des Team T-Mobile ist ganz und gar auf Ullrich ausgerichtet, auf das große Duell mit Lance Armstrong und auf den Gesamtsieg. Wenn es am Ende der entbehrungsreichen Tage jeweils auf die Zielgerade geht, wird Zabel nichts mehr sein als eine Mischung aus Einzelkämpfer und Alleinunterhalter. Oder, wie es Telekom-Teamchef Mario Kummer formuliert: „Eine Art Joker“. Was auch immer: Hilfe wird dem Joker dabei nicht zuteil werden, den Vertrag mit Gian-Matteo Fagnini, Zabels Anfahrer, haben die Telekoms ohnehin zu Saisonbeginn gekündigt.

Zabel hat sich auf die neue Situation eingelasssen, was hätte er auch anderes tun sollen. Und er hat darüber nachgedacht, was zu ändern sei, um aus der Malaise einigermaßen unbeschadet herauszukommen. Ergebnis: Der Dauerbrenner, der es in den vergangenen Jahren stets auf deutlich mehr als 100 Renntage pro anno gebracht hat, will kürzer treten – und sich mehr denn je auf die Höhepunkte konzentrieren, um seine Sprintkräfte dort ausgeruht zur Geltung bringen zu können. Nur so, das weiß Zabel, hat er gegen die jungen Wilden wie Petacchi eine Chance. Für diese ist er sogar bereit, die Starts bei Klassikern wie der Flandern-Rundfahrt oder Paris-Roubaix zu opfern, auch wenn es ihm schwer fällt und mächtig am Hintern jucken wird. „Für einen Vielfahrer wie mich ist das ja neu“, sagt Zabel.

Dass die Strategie freilich nicht nur neu für ihn ist, sondern auch leistungsfördernd, hat Mailand–San Remo nun bewiesen. Es war ein Testlauf für Zabel, um zu sehen, ob und wie gut es mit der Konzentration aufs Wesentliche klappt. Fazit: Es klappt schon ganz gut, er hat ja Petacchi hinter sich gelassen. Und das mit dem Jubeln wird er bis Sommer bestimmt auch noch in den Griff kriegen. Jede Wette!