Säuberung mit System

Im Kosovo ist es nicht etwa zu einem spontanen Gewaltausbruch gekommen – sondern zu einer absehbaren Eskalation der permanenten Gewalttätigkeit und Unzufriedenheit

Die EU hat keinerlei Strategie für eine friedliche Lösung des anstehenden Konflikts auf dem Südbalkan

Überraschend ist eigentlich nur, dass überhaupt jemand über die jüngsten Ereignissen im Kosovo überrascht ist. Sie waren für jeden, der sehen wollte, voraussehbar. Denn in der vergangenen Woche ist es nicht etwa zu einem Gewaltausbruch gekommen, sondern zu einer Eskalation der permanenten Gewalttätigkeit und Unzufriedenheit.

Seit die Nato 1999 in das Kosovo einmarschiert ist, sind rund 100.000 Serben geflüchtet. Über 1.300 wurden getötet oder gelten als vermisst. Über einhundert serbisch-orthodoxe Heiligenstätten und eine unbekannte Anzahl von serbischen Häusern wurden zerstört. Zunächst zeigte die internationale Gemeinschaft „Verständnis“ für die „vereinzelten“ Rachefeldzüge der unter Milošević unterdrückten und schikanierten Albaner. Ein System wollte man nicht erkennen. Es wäre zu peinlich gewesen, nach den Luftangriffen zuzugeben, dass sich einzelne Albaner nach der Befreiung benahmen wie die Schergen Milošević’.

Tatsächlich sind die Opfer und Gepeinigten im Kosovo Täter und Peiniger geworden. Das schwarzweiße, von der CNN geprägte Bild vom bösen Serben und guten Albaner stimmt längst nicht mehr. In Berlin und Paris hat man die albanische Sehnsucht nach der formalrechtlichen territorialen Unabhängigkeit unterschätzt. Deren Verständnis von Souveränität funktioniert wie das Milošević-Serbien: Frei sein bedeutet, unter seinesgleichen zu sein.

Stattdessen erinnerte man sich in Europa an die Hilfe für die kosovo-albanischen Flüchtlinge – und an die Kosten der Nato-Luftangriffe auf Serbien. Was für Unannehmlichkeiten man auf sich nehmen musste, um das Kosovo zu befreien! Und jetzt schießen diese Albaner auf uns, demolieren UN-Fahrzeuge, zwingen die Familien der UN-Verwalter zur Flucht nach Zentralserbien, nur weil die UN und die internationale Friedenstruppe KFOR die im Kosovo verbliebenen Serben vor einem Genozid beschützen wollen! Wie undankbar!

Man wird in Europa den Gedanken verdauen müssen, dass die Kosovo-Albaner die KFOR nicht mehr wie eine Befreiungs-, sondern wie eine Okkupationsmacht betrachten – und die Unmik als eine kolonialistische Organisation, die der Bevölkerung vorschreibt, dass das Kosovo, wie in der UN-Resolution 1244 festgelegt, ein Bestandteil Serbien-Montenegros bleiben muss. Und das, obwohl sich alle albanischen Parteien einig sind, dass das Kosovo unabhängig werden muss.

Es ist frustrierend für die Kosovo-Albaner: Die serbische Herrschaft sind sie losgeworden – und trotzdem dürfen sie über die wichtigste aller politischen Fragen nicht selbst entscheiden. Die mit Mühe aufgebauten politischen Institutionen im Kosovo dürfen Pflichtübungen machen – entschieden wird vom UN-Verwalter. Wieso ist man über die Ereignisse der vergangenen Woche überrascht?

In New York und Brüssel glaubte man den optimistischen Berichten der UN-Provinzverwalter, die angaben, die Anzahl der „ethnisch motivierten Verbrechen“ sei gesunken. Dabei wurde vergessen, dass es seit dem Krieg einfach nicht mehr viele Serben gab und es dementsprechend aus rein mathematischen Gründen weniger „ethnisch motivierte Zwischenfälle“ geben musste. Aufgrund dieser falschen Interpretation verringert die Nato ihre Truppen von über 40.000 auf rund 17.000 – schließlich hatte man auch andernorts Geschäfte zu erledigen, im Irak etwa.

Die unterbesetzte, schlecht geführte KFOR wurde von der Eskalation auf dem falschen Fuß erwischt. Die Nato-Soldaten konnten gerade verhindern, dass es zu Massenmorden kam, und die bedrohten Serben rechtzeitig aus ihren Enklaven evakuieren. Das nutzten die Albaner und setzten in Brand, was immer es Serbisches zu verbrennen gab.

Wer von einem „spontanen Gewaltausbruch“ spricht, sollte einfach einen Blick auf die Landkarte werfen: Wo bis Mitte vergangener Woche Pünktchen serbische Enklaven im Süden des Kosovo markierten, gibt es heute keinen einzigen Serben mehr. Auch die Provinzhauptstadt Priština ist serbenfrei – und wird in Anbetracht von über einhundert niedergebrannten serbische Häusern auch zukünftig ethnisch rein bleiben. Allein dieser „Erfolg“ legt die Vermutung nahe, dass es sich bei den Unruhen der vergangenen Woche nicht etwa um einen spontanen Gewaltausbruch handelte, sondern um eine gut geplante Aktion.

Mittlerweile hat sich das auch unter den Mitarbeitern der internationalen Gemeinschaft rumgesprochen. Der Befehlshaber der Nato in Südeuropa, Admiral Gregory Johnson, kam nach Priština, sah und sagte: Die „massiven, ethnischen motivierten Unruhen“ im Kosovo seien als eine „ethnische Säuberung“ zu beurteilen und könnten nicht toleriert werden. Zudem war der Admiral verärgert, dass man auf seine Soldaten geschossen hatte. Daher erhielt die KFOR nun den Befehl, „ab sofort“ mit der „nötigen Gewalt“ – sprich scharfer Munition – Menschenleben zu verteidigen. Nur: Offenbar gilt das nicht für die serbisch-orthodoxen Klöster mit ihren mittelalterlichen Fresken und Ikonen.

Das Kosovo, die „kulturelle Wiege des Serbentums“, verwandelt sich immer mehr in eine Gruft der serbischen Kunst und Geschichte. Es hat sich wieder einmal gezeigt: Wer auf dem Balkan die Gelegenheit für genozide Spielchen hat, der nimmt sie auch wahr. Warum sollten da Albaner besser sein als Serben oder Kroaten? Oder Deutsche, Franzosen und Briten, die ihre zerstörerischen Glaubens- und Rassenkriege längst hinter sich gelassen haben?

Ob Albaner oder Serben: Wer auf dem Balkan die Gelegenheit zu genoziden Spielchen hat, nimmt sie wahr

Der Balkan, dessen einer Teil jahrhundertlang zur Habsburgermonarchie gehörte, während den anderen das Osmanischen Reich verwaltete, hat einige Kapitel europäischer historischer Entwicklung versäumt. Das gilt sowohl für positive als auch für finstere europäische Erfahrungen. Das Begehren nach der Gründung „nationaler Staaten“ war der treibende Motor der Kriege in Exjugoslawien. Dabei waren die Serben seit Ende der Achtzigerjahre tonangebend.

Die serbische Bevölkerung wurde nach dem Zerfall Jugoslawiens auf drei selbstständigen Staaten verteilt. Milošević wollte alle Serben in einem Staat vereinigen, verlor aber alle seine Kriege. Dank seiner Politik leben heute rund 800.000 serbische Flüchtlinge aus Kroatien, Bosnien und dem Kosovo in Zentralserbien. Kroatien ist fast serbenfrei, das Kosovo ist für Serbien verloren, auch wenn das in Belgrad niemand laut aussprechen will.

Damit jedoch ist das Kapitel Kosovo längst nicht abgeschlossen. Albaner leben heute verstreut in Albanien, Kosovo, Griechenland, Mazedonien, Montenegro und Südserbien. Wie die Serben wollen auch sie in einem Staat vereinigt leben. Die EU hat keinerlei Strategie für eine friedlich Lösung des damit anstehenden Konflikts auf dem Südbalkan. Stattdessen werden die Probleme unter den Tisch gekehrt. Beamte mit enormen Gehältern schicken positive Berichte über ihre tollen Ergebnisse. Wer das nicht sehen will, ist dazu verdammt, sich immer wieder zu wundern. ANDREJ IVANJI