Kleiner Sieg mit großen Zweifeln

Taiwans Präsident Chen wird ganz knapp wiedergewählt. Die Opposition protestiert und fordert eine Neuauszählung sowie Untersuchung des dubiosen Attentats

PEKING taz ■ Für den einen ist es „ein Sieg der Demokratie“, für den anderen „eine unfaire Wahl“. Für den einen stimmten 6,471970 Millionen oder 50,1 Prozent, für den anderen 30.000 weniger oder 49,9 Prozent. Doch wer wirklich Gewinner von Taiwans Präsidentschaftswahlen vom Samstag ist, wird sich noch zeigen. Nicht ohne Grund schickte Taiwans wichtigster Verbündeter, die US-Regierung, bisher kein Glückwunschtelegramm, sondern lobte lediglich die „Wahrnehmung der demokratischen Rechte durch das taiwanische Volk“ und die Wahlbeteiligung von 80,3 Prozent.

Tatsächlich wirft der dramatische Auszählungssieg des amtierenden Präsidenten Chen Shui-bian von der liberalen Demokratischen Volkspartei (DPP) über seinen Herausforderer Lien Chan von der konservativen Kuomintang (KMT) Fragen auf. Da waren 337.000 ungültige Stimmen, die vermutlich auf eine Boykottbewegung gegen die beiden Lager zurückzuführen waren. Da die ungültigen Stimmen elfmal so hoch sind wie die Stimmendifferenz zwischen den Kontrahenten, fordert die KMT eine Annullierung der Wahl und eine Neuauszählung. Den Antrag dazu nahm Taiwans höchstes Gericht gestern an und ließ alle Wahlurnen für die Beweisaufnahme versiegeln. Ob es zur Neuauszählung oder Annullierung kommt, sollen noch zu bestimmende Richter entscheiden.

Anlass für die Zweifel gab das mutmaßliche Attentat auf Chen und Vizepräsidentin Annette Lu vom Freitag, bei dem beide leicht verletzt wurden. „Eine Kugel wurde auf Chen geschossen, aber uns hat sie getroffen“, sagte der KMT-Politiker Jason Hu. Vor dem Attentat sahen fast alle Umfragen einen Sieg Liens voraus. So dürfte der vom Attentat ausgelöste Solidarisierungseffekt mit Chen die Wahl zu seinen Gunsten entschieden haben. Hinzu kommt, dass laut KMT 200.000 Polizisten und Soldaten, die wegen des Attentats in Alarmbereitschaft versetzt wurden, deshalb nicht wählen konnten. Unter ihnen zählt die KMT traditionell viele Anhänger. Sie allein hätten laut der Partei das Blatt wenden können. Der Ärger der KMT-Anhänger machte sich mit zahlreichen Demonstrationen für Neuwahlen Luft.

Die Polizei versuchte das Attentat mit der Tat eines Fanatikers zu erklären. Vor Ort beschrieben Reporter der New York Times die Ermittlungen als „nachlässig“. Der Tatort sei der Öffentlichkeit wieder zugänglich gewesen, bevor die beim Attentat benutzten Patronen am Samstag von einem Ladenbesitzer unter einem Auto entdeckt wurden.

China, das Taiwan als abtrünnige Provinz betrachtet, reagierte nur auf den Ausgang des Referendums, das parallel zu den Wahlen stattfand. Auf Betreiben Chens sollten die Taiwaner entscheiden, ob eine Nachrüstung gegenüber den auf die Insel gerichteten Raketen Chinas nötig ist und Verhandlungen mit Peking erwünscht sind. Doch mit 45 Prozent Teilnahme blieb das Referendum ungültig. Peking wertete dies als Zeichen, dass „jeder Versuch, Taiwan von China zu trennen, zum Scheitern verurteilt ist“. GEORG BLUME

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