Alte Liebe rostet langsam

Ein Fan: „In Stein und Bein hat der Verein investiert!“ Der BVB-Präsident redet auch so

AUS DORTMUND KLAUS JANSEN

Irgendetwas stimmt nicht im Westfalenstadion. Noch zehn Minuten bis zum Abpfiff. Borussia Dortmund spielt den Abstiegskandidaten Eintracht Frankfurt an die Wand und führt sicher mit zwei zu null. Doch die Frankfurter Fans sind bester Laune: „Nächste Woche kaufen wir euch auf“, schallt es aus dem Gästeblock in Richtung Südtribüne, wo sich die schwarz-gelbe Wand der Borussen-Fans auftürmt. Die höhnischen Gesänge der gegnerischen Anhänger müssen sich die Fans von Borussia Dortmund seit Wochen anhören. Egal ob ihre Mannschaft überzeugt wie gegen Frankfurt oder untergeht wie vor zwei Wochen gegen Stuttgart – die Finanzkrise der Borussia ist allgegenwärtig. Eigentlich, so denkt man, eigentlich müsste das doch Reaktionen bei den BVB-Fans hervorrufen. Eigentlich, so denkt man, müssten es die Fans doch irgendwann leid sein, den Spott der Gegner Woche für Woche zu ertragen. Und anfangen, sich darüber Gedanken zu machen, was so schief gelaufen ist, dass selbst hoffnungslos unterlegene Abstiegskandidaten die Borussia nicht mehr ernst nehmen. Und hinterfragen, wie es dazu kommen konnte, dass der Verein von seinem Vorstand finanziell an den Rand des Abgrunds manövriert wurde.

Doch falsch gedacht. Auf der Südtribüne sucht man vergeblich nach Transparenten, die einen Abgang von Gerd Niebaum und Michael Meier, dem Führungsduo von Borussia Dortmund, fordern. Auch bei schlechten Leistungen der Mannschaft brüllt niemand „Vorstand raus!“ Stattdessen prasselt die Wut vieler Anhänger auf diejenigen nieder, die die schlechte Nachricht der Riesenlöcher überbracht haben. Einer davon ist Kicker-Redakteur Thomas Hennecke. Gemeinsam mit seinem Kollegen Freddie Röckenhaus von der Süddeutschen Zeitung hat er die Bücher des Vereins durchblättert und von unabhängigen Experten prüfen lassen. Fast konspirativ haben sich die beiden Reporter mit Aufsichtsratsmitgliedern und gut informierten Fans getroffen. Mitte Dezember, mitten in der Winterpause, ließen sie die Meldung der finanziellen Schieflage des BVB platzen.

Viele Fans wittern seitdem eine Verschwörung der Medien gegen ihren Verein. Thomas Hennecke bekommt E-Mails, in denen ihm die „schlimmste Hetzkampagne, seit die Amerikaner die Kommunisten gejagt haben“, vorgeworfen wird. „Alles an Beleidigungen, was die Fäkalsprache so hergibt“, bekommt er zu lesen. „Die Wucht der Kritik hat mich schon überrascht“, sagt Hennecke. Geschürt wird das Misstrauen gegenüber den Medien von Meier und Niebaum. Der bärbeißige Klosterschüler Meier und der promovierte Rechtsanwalt Niebaum, erster hauptamtlicher Präsident in der Bundesliga, wollen ihr Lebenswerk verteidigen. Mit einstweiligen Verfügungen gehen die Vereinsverantwortlichen gegen den Kicker und die Süddeutsche vor – die Journalisten behielten jedoch bislang mit ihren Prophezeiungen meist Recht. Trotzdem: Meier und Niebaum genießen weiterhin den Rückhalt der Fans. Den von Thorsten zum Beispiel, der gegen Frankfurt wie bei jedem Heimspiel auf der Südtribüne steht. Thorstens kahl rasierter Schädel sitzt auf einem Stiernacken. Schwere Springerstiefel ragen unter seiner als Rock um die Hüfte gewickelten BVB-Fahne hervor. Darüber trägt er eine mit Aufnähern übersäte Kutte. Rein optisch ist er das absolute Gegenstück zu den Anzugträgern Meier und Niebaum – aber er redet genau wie sie: „Die Medien vergessen, dass der Vorstand über Dekaden gute Arbeit geleistet hat.“ Er zieht das a im Wort Dekaden in die Länge wie einen Kaugummi. Und: „In Steine und Beine hat der Verein investiert.“ Ein Lieblingssatz von Meier und Niebaum. „Die beiden haben eine zweite Chance verdient“, findet Thorsten.

Woher kommt dieses uneingeschränkte Vertrauen? „Für die Fans sind die Finanzprobleme noch sehr abstrakt“, erklärt Thilo Danielsmeyer vom BVB-Fanprojekt. Vor dem Spiel gegen Frankfurt sitzen er und seine Kollegen in einem kleinen Raum unterhalb der Südtribüne und trinken Kaffee. Die Wände des Raums sind tapeziert mit Postern und Fotos: Stéphane Chapuisat und Jürgen Kohler blicken aus den Bilderrahmen. Lange ist es noch nicht her, dass diese Helden am Borsigplatz ihre Trophäen präsentierten – doch die Zeiten haben sich geändert. Ob dies die Fans begriffen haben? „Interessant ist, was passiert, wenn die ersten Spieler im Sommer verkauft sind“, sagt Danielsmeyer. Das sehen auch andere so: „Es wird nicht nur Amoroso gehen, den hier eh keiner mehr sehen will“, sagt Guido Schulz, Macher des Internet-Fanzines „schwatzgelb.de“. Für Schulz wären Spielerverkäufe keine Tragödie. „Wenn man kein Geld hat, muss man halt kleinere Brötchen backen“, sagt er. Und der Vorstand? „Klar, Niebaum ist nicht der Mann für kleinere Brötchen. Aber trotzdem rücken die Fans in Krisenzeiten zusammen. Die Leute sind halt harmoniebedürftig.“

Der BVB tut einiges, um diese Harmonie zu stärken. Ständig im Einsatz: Aki Schmidt, Jahrgang 1935, mit Borussia in den Sechzigerjahren deutscher Meister und Europapokalsieger. Mittlerweile in Ehren ergraut, verbringt er seinen Ruhestand damit, als Fanbeauftragter der Borussia die Anhänger davon zu überzeugen, dass sie ihrem Vorstand vertrauen sollen. Mit Geschichten von früher – das kommt bei den traditionsbewussten Fans immer gut an. „Nach dem Europapokalsieg 1966 hat der damalige Vorstand gepennt“, erzählt Schmidt. „Die dachten, wir wären die Größten in Europa und haben die Mannschaft nicht vernünftig verstärkt.“

Und heute? „Wie kann man dem Verein einen Vorwurf machen, weil er nach dem Weltpokalsieg von 1997 aus den Fehlern von 1966 lernen wollte?“ Viel Geld haben die Borussen seitdem für neue Spieler ausgegeben, sie haben hoch gepokert. Nicht zu hoch, meint Schmidt. Er zählt auf: „Kurz vor Schluss gegen Cottbus, Elfmeterschießen gegen Brügge, dann gegen Sochaux …“ Hätte es diese Niederlagen nicht gegeben, Borussia Dortmund hätte das Geld aus dem internationalen Geschäft eingenommen, das der Verein so dringend braucht.

Dann brauchte man heute nicht über eine Krise zu diskutieren. Hätte, hätte, hätte – Pech, Fußball eben: Wer nicht in der Champions League mitspielt, kann keine Spitzenmannschaft mehr bezahlen. Doch Aki Schmidt sieht die Krise auch als Chance. Er schwärmt von der Dortmunder Jugendarbeit, von Talenten wie Salvatore Gambino, David Odonkor oder Sahr Senesie. „Es ist gut, dass wieder junge Leute die Chance kriegen zu spielen.“ Mehr Jugend, das gefällt auch den Fans: „Wenn die teuren Stars weg sind, können sich vielleicht auch wieder Leute mit dem Verein identifizieren, die sich durch den ganzen Kommerz entfremdet haben“, sagt Thilo Danielsmeyer vom Fanprojekt.

Wer diese Entfremdeten finden will, muss lange suchen. Doch er findet sie: Jeden Morgen um halb zehn am BVB-Trainingsplatz „Am Rabenloh“. Sie kommen mit Tobi, einem Zwergpinscher. Es ist eine Rentnergruppe, die sich kein Training ihrer Borussia entgehen lässt. Auch nicht bei Schneeregen, dann bekommt Tobi eben ein leuchtend türkises Wärmedeckchen angezogen. Über die Finanzkrise ihres Lieblingsvereins wollen die Rentner eigentlich nicht mit einem Journalisten sprechen. „Es ist doch schon alles gesagt worden.“ Auch ihre wirklichen Namen wollen sie nicht preisgeben. „Sonst heißt es vom Verein wieder, wir seien von Schalke bezahlt, um Borussia schlecht zu machen.“ Dreimal graue Haare, zweimal dicke Brillen, dreimal BVB-Fan seit Jahrzehnten. Ihren Vorsatz zu schweigen halten sie keine zwei Minuten: „Na, wenn Sie schon schreiben wollen, dann schreiben Sie wenigstens, dass die Idioten da oben wegsollen.“ Die Idioten, das sind für sie Meier und Niebaum. „Sonst steht hier irgendwann der Insolvenzverwalter“, sagt Hans. „Es sei denn, die finden einen Abramowitsch“, ergänzt Werner. Der Rentner lacht bei der Vorstellung, dass sich ein Milliardär in Borussias schnieker Geschäftsstelle an der Bundesstraße 1 einquartieren könnte – so wie der russische Oligarch Roman Abramowitsch, der im vergangenen Herbst den Verein Chelsea London für 215 Millionen Euro gekauft hat und sofort über 150 Millionen in neue Spieler investierte.

Doch das Lachen gefriert, als die BVB-Profis die Kabine verlassen. Denn anstatt auf den Rasen zu laufen, steigen die Spieler in ihre Autos. BMWs und Mercedes-Limousinen verlassen das Trainingsgelände: Gespielt wird heute in der Halle. Die drei Rentner bleiben allein im Schneeregen stehen. Und fühlen sich bestätigt: „Sehen Sie: alles Abzocker.“ Abzocker, die sich jeden Morgen extra überlegten, mit welchem Auto sie zum Training kommen. Werner redet sich in Stammtischlaune: „Wenn die Brasilianer zum Friseur gehen, stolpern sie die Treppe runter und haben einen Muskelfaserriss.“ Der Fußball sei sowieso kaputt. Nächstes Jahr komme der Abstiegskampf. Er findet kein gutes Haar mehr, BVB-Fan zu sein. Doch selbst diese drei, Hans, Werner und Ralf, werden auch am nächsten Tag wieder „Am Rabenloh“ auftauchen und diskutieren. Denn die Liebe zum BVB rostet nur langsam. Der Zwergpinscher Tobi wird noch häufiger frieren.