Viel Liebe und wenig Mist

Der persönliche Abschied von der Macht stand bei Gerhard Schröder bisher noch nicht auf der Agenda. Er hat es doch geschafft – ganz ohne Plan

Gerhard Schröder: „Ich stütze mich auf die, äh, die ich liebe und die mich lieben“

AUS BERLIN JENS KÖNIG

Man hatte den ganzen Parteitag über geahnt, dass mit dieser Sozialdemokratie nicht alles stimmt. Ein SPD-Vorsitzender, der seiner Partei nicht gerade in Liebe zugetan ist, zum Abschied aber ein paar Tränen verdrückt. Ein Parteivorsitzender a. D., der als knochentrockener Oberlehrer in die SPD-Annalen eingegangen ist, aber plötzlich, zu dieser Stunde, von Gefühlen redet und sich im Überschwang nicht nur beim scheidenden Vorsitzenden, sondern gleich auch noch bei dessen Ehefrau bedankt.

Überhaupt, Doris. Als familiäre Allzweckwaffe des Kanzlers war sie an diesem Tag mehrfach im Gespräch, selbst der neue SPD-Vorsitzende hält sie für wichtig. Schröder mache über das Jahr 2006 hinaus weiter, sagte Franz Müntefering und fügte an: „Doris stimmt zu.“ Und jetzt, als alles fast vorbei ist, erheben sich die Genossen ein letztes Mal von ihren Plätzen und singen ein Lied, ihr Lied. Wann wir schreiten, Seit’ an Seit’. Die vertonte sozialdemokratische Idee. Aber vorn auf der Leinwand laufen die Zeilen des Liedes langsam von oben nach unten herunter. Zum Mitlesen. Technische Hilfestellung für eine Partei, die ihren Text vergessen hat.

Das trifft in gewisser Weise auch auf Gerhard Schröder zu. Wobei er für die Lieder der Sozialdemokratie noch nie etwas übrig hatte. Da sollte er bei seinem Abschied von der Spitze dieser Partei kein Herzblut vergießen, meinten viele. Aber ganz so einfach war das mit diesem Gerhard Schröder und der SPD nie. Das war kein klarer Fall von gegenseitiger Abneigung, eher schon, wie in jeder Beziehung, eine Mischung aus Liebe und Hass. Dieses Verhältnis konnte man in der Stunde des Abschieds noch einmal besichtigen. Da steht Gerhard Schröder stocksteif auf der Bühne im Berliner Estrel-Hotel und weiß nicht, wohin mit sich. Die Arme hängen kerzengerade an seinem Körper herunter. Er verzieht keine Miene. Vor drei Minuten hat er seine Rede beendet. Seitdem klatschen ihm die 525 Delegierten unentwegt zu. Der Parteitag liegt ihm zu Füßen.

Zum ersten Mal in der deutschen Nachkriegsgeschichte gibt ein Bundeskanzler seinen Parteivorsitz ab, und ausgerechnet jetzt verlassen Schröder seine Instinkte der Macht. Guckt er ernst genug? Soll er vielleicht winken? Oder lieber auf Pathos machen? Auf den Treffen dieser supermodernen 08/15-Parteien gibt es heutzutage ja für alles mögliche Regieanweisungen – aber für diesen historischen Moment? Nichts. Da versagt die Inszenierung. Schröder setzt sich hin und steht wieder auf. Setzt sich wieder hin. Und steht wieder auf. Plötzlich wischt er sich mit dem linken Zeigefinger ein paar Tränen aus den Augenwinkeln.

Ja, die SPD ist ein Verein mit großer Geschichte und großen Gefühlen, mit Fahnen und Liedern – und ihr achter Vorsitzender war auch ein Sozialdemokrat, sogar einer mit Herz. Dem fällt sein eigener Abschied schwer. Das ändert aber nichts daran, dass Schröder von der SPD immer mehr genommen als ihr gegeben hat. Und als Kanzler interessiert ihn bis heute vor allem, wie er diese SPD für seine Politik einspannen, wie er sie domestizieren kann. Da muss man ihm nicht in die Augen sehen, man muss ihm nur zuhören.

Schröders Rede auf diesem Fünf-Stunden-Ruck-zuck-Parteitag ist keine sentimentale Veranstaltung. Eher eine typische Kanzlerrede, geschäftsmäßig im Ton, kompromisslos in der Sache. Ein ewiges „Weiter so!“. „Wenn wir klar bleiben und konsequent, dann wird unsere Politik einsichtig zu machen sein“, sagt Schröder an einer Stelle, und dieser kühle Satz ist eine Art letzter Beweis dafür, dass Schröders Rückzug vom SPD-Vorsitz unausweichlich war. Der Kanzler hat keine Idee mehr, wie er in die Gefühlswelt seiner Partei vordringen kann. Das gelingt ihm nicht einmal mehr mit seinen letzten „persönlichen Worten“.

Als er davon spricht, dass ihm der Abschied nicht leicht falle; dass er stolz darauf war, Vorsitzender dieser großen, ältesten demokratischen Partei sein zu dürfen; und dass er für viele kein einfacher Vorsitzender gewesen sei, da klatschen alle, viele vor Erleichterung. Sie glauben immer noch, dass es für Schröder Wichtigeres gibt als die Partei. Mitten in seinen Abschied hinein erklärt der Kanzler seinen Genossen, dass das Amt des Regierungschefs „die ganze Kraft eines Menschen“ erfordere, und fügte dann ein wenig stammelnd hinzu, dass er sich dabei auf die stütze, „die, äh, ich liebe und die mich lieben“.

Die Partei meinte er damit nicht. Die Saalkamera schwenkt später in die erste Reihe im Saal. Da sitzt seine Doris und heult. Diese Rührseligkeit verlängert dann ausgerechnet Hans-Jochen Vogel. Der ehemalige Parteichef brüllt die offizielle Liebeserklärung der SPD an ihren scheidenden Parteivorsitzenden mit hochrotem Kopf in den Saal. Der Gerd sei der Partei „in tiefem Gefühl verbunden“. Vogel sagt das so laut, als müsste er viele Genossen davon erst noch überzeugen. Echte Liebe kommt ohne großes Getöse aus.

Franz Münterfering betritt die Bühne und redet einfach los. Von Jockel, dem 98-jährigen Genossen, den er neulich besucht habe. Von Michael, dem Ortsvereinsvorsitzenden in Haselfeld, der ihm gestern Abend erzählt habe, dass er die Zahl seiner Genossen von 90 auf 110 gesteigert habe. Warme Worte, kurze Botschaften, harte Wahrheiten – das ist Müntefering. „Ich will keine ruhige Partei“, sagt er. „Aber wir müssen geschlossen handeln.“ Er redet über die Werte der Gesellschaft. Über die Sehnsucht nach Orientierung. „Wir sind da alle Suchende“, gibt er zu. Aber nicht, was den Willen zum Regieren betrifft. „Opposition gehört zur Demokratie dazu“, sagt Müntefering. „Aber Opposition ist Mist. Lasst das die anderen machen.“ Keine Tränen, aber rauschender Beifall. 95,1 Prozent stimmen für den neuen SPD-Vorsitzenden. Für den neuen Liebling der Partei.