bernhard pötter über Kinder
: Leben mit der Kodiermaschine

Ab sofort haben wir keine Geheimsprache. Das macht das Leben viel einfacher

„Papa!“ Jonas rast auf mich zu, als ich die Tür aufschließe. „Papa, ich habe keine Geheimsprache!“ Aha. „Papa!!! Ich habe jetzt keine Geheimsprache.“ Sehr schön, sage ich. Und sonst? Jonas kämpft mit den Tränen. „Er hat eine Geheimsprache“, sagt Anna. Was? Er sagt doch, dass er keine Geheimsprache hat. „Eben“, sagt Anna. Ach so, sage ich. Du hast also keine Geheimsprache. „Genau“, strahlt mein Sohn.

Also hat er keine Geheimsprache. Die bedeutet, dass man alles so sagt, wie es ist. Oder genau das Gegenteil. Das erleichtert das Familienleben natürlich nicht gerade. Oder gerade doch, wie es auf geheim heißen würde. „Reden Sie mit Ihren Kindern, wenn Sie den Eindruck haben, Sie würden sie nicht verstehen“, ist der Rat aller Erziehungsexperten. Aber das macht alles ja nur noch schlimmer.

„Ich ziehe heute keine Hosen an“, sagt Jonas. Ist das jetzt der Beginn der Revolte? Oder ein braves Kind, das sich seiner Geheimsprache bedient? Entscheidend ist der nächste Satz: Sagt er: „Und ich fahre bestimmt nicht mit meinem eigenen Fahrrad“, ist alles in Butter. Brüllt er: „Und du hast mir gar nichts zu sagen“, kann er unmöglich das Gegenteil davon meinen. Und selbst wenn ich weiß, wie ernst es meinem Sohn mit der geheimen oder unverblümten Rede ist – was sage ich dann?

„Wir haben noch viel Zeit bis zum Losgehen. Wehe, wenn du in den nächsten Minuten fertig bist!“ Das wäre ganz im Sinne meines Geheimsprachlers. Aber natürlich ein Spiel mit dem Feuer. Nachher denkt er, dass ich denke, dass er denkt, dass er mich nicht beim Wort nehmen muss.

„Sei doch froh, dass er mit uns in seiner Geheimsprache redet“, meint Anna. „Er bezieht uns in sein Leben noch voll ein. In ein paar Jahren ist das vorbei.“ Auch unser Freund Frank findet es toll, dass ich mit einer Kodiermaschine zusammenlebe. Zu Jonas sagt er: „Da kannst du für die Zeit üben, wenn du dich mal darüber beschweren wirst, dass deine Eltern dich nicht verstehen.“

Frank ist ein großer Ironiker. Er meint nie, was er sagt, und hat vom vielen Augenzwinkern bei seinen Bemerkungen schon Sehstörungen. Und er hat nie begriffen, dass man Kindern nicht mit Ironie kommen kann. „Toll, wie das ganze Essen daneben geht“, ruft er bei uns am Abendbrottisch, als sich Tina gerade ihren Joghurt in die Ohren schmiert. „Da muss man später nicht so viel Diät machen!“ Tina grinst unter ihrer Joghurtmaske. Und von Jonas höre ich abends, als Frank uns verlassen hat: „Frank sagt auch, ich soll meine ausgekippten Legosteine nicht einsammeln. Dann finde ich sie morgen schneller.“ Ich speichere diese Aussagen in meinem Hinterkopf. Irgendwann hat auch Frank mal Kinder.

Nichts gegen eine ordentliche Geheimsprache. Einen großen Teil der Grundschule habe ich als Drahnreb Rettöp damit verbracht, mit meinen Freund Snej Ekhcsrik möglichst viele Wörter rückwärts zu lernen. Weiter als bis zu unseren Namen sind wir nicht gekommen, weil wir einfach nicht verstanden haben, was der andere da stotterte. Das ist das Problem mit wirklich geheimen Geheimnissen. Und das ist auch das Problem mit wirklich geheimen Geheimdiensten. Was machen sie eigentlich? Nutzt das was? Die Stasi kannte die Unterhosengröße aller DDR-Bürger. Als es ernst wurde, hat es ihnen aber zum Glück nichts geholfen. Und der Verfassungsschutz hat die NPD mit geheimen Mitarbeitern so effektiv unterwandert, dass die NPD inzwischen als Außenstelle des Bundesamtes gilt und deshalb natürlich nicht verboten werden darf.

Unsere familiäre Geheimsprache ist, verglichen mit der NPD, leicht zu beherrschen. Wir wissen nur nicht genau, was wir meinen. „Ich will kein Honigbrot“ war noch relativ leicht zu entschlüsseln. Aber dann fingen wir an, nicht nur die Aussage des Satzes, sondern alle seine Teile ins Gegenteil zu verkehren. Zum Beispiel: „Du stehst nicht wach“ – heißt: na? Genau: „Ich gehe schlafen“. Oder „Morgen bleibt Opa“ – dechiffriert: „Heute kommt Oma“. Man lernt auf diese Weise viel über Semantik und Grammatik. Aber eigentlich sollte Sprache ja auch dazu da sein, sich zu verständigen.

Das babylonische Sinngewirr war nur durch einen brutalen Akt der Regelverletzung zu lösen. Gestern kam Jonas und sagte: „Ich möchte keine Schokolade“.

Schön, sagte ich, dann bekommst du auch keine. „Aber das ist doch Geheimsprache“, beschwerte sich mein Sohn. Wenn du sagst, es ist Geheimsprache, dann ist es also keine Geheimsprache, sagte der Vater. „Das ist gemein!“, rief Jonas. Genau, sagte ich. Das ist echt nett von mir. Er hat die Geheimsprache. Ich habe die Schokolade. Endlich gilt mein Wort wieder. Vielleicht stimmt aber auch genau das Gegenteil.

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