berliner szenen Deutsches Theater

Hass und Hybris

Der Doktorand ist Garderobier im Deutschen Theater (DT). Da es sein zweiter Minijob ist, lässt ihm die Steuer im Monat höchstens 100 Euro. Das Geld sind die vielen aufreibenden Abende nicht wert, findet er. Der Doktorand beobachtet sich im großen Spiegel an der roten Wand gegenüber. Traurig sieht er aus in seinem schwarzen Anzug! Werden sie ihn bald feuern? Einen richtigen Vertrag hat hier niemand. Und Herr L. hat schon wieder eine böse Bemerkung gemacht, denn der Doktorand kam heute eine Viertelstunde zu spät! Es ist die trügerische Stille vor dem Eintreffen der ersten Gäste. Überfallartig werden sie hereingehastet kommen, um Michael Thalheimers Erfolgsinszenierung „Emilia Galotti“ zu sehen. „Die dauert ja nur bis 20.45 Uhr!“, fällt dem erleichterten Doktoranden da plötzlich ein. „Danach wie immer den Zuschauerraum aufräumen, und dann bloß schnell raus aus diesem hinterhältigen Haus der sozialen Kälte!“ Dann kommen auch schon die ersten älteren Damen und geben mit misstrauischen Blicken ihre Pelzmäntel ab. Trinkgeld: null. „Das ist und bleibt ein abgeschmacktes Ost-Oma-Theater hier“, denkt der Doktorand. „In ihrer grenzenlosen Hybris glaubt die Dramaturgie, ein Thalheimer könne ihr Haus aufmotzen, aber es bleibt doch eine nach Mottenkugeln stinkende Rentnerbude!“ Die Rushhour naht: Wie eine Maschine muss der Garderobier Pelzmäntel aufhängen, Geld kassieren und Blechmarken verteilen. „Geht das nicht schneller, junger Mann!?“ „Darf ich auch noch meine Straßenschuhe bei Ihnen abgeben?“ „Kann ich nochmal meine Jacke haben?“ Noch am selben Abend teilt man ihm seine fristlose Kündigung mit: Fast erleichtert geht der Doktorand hinaus in die Nacht. Aber innen fühlt er Hass. JAN SÜSELBECK