Esoterik, in Ehren ergraut

Ein akustisches Porträt des Central Park bei Nacht: Das MaerzMusik-Festival würdigt den amerikanischen Avantgarde-Pionier Charles Edward Ives, dessen Arbeit vieles vorwegnahm und der dennoch kaum Spuren hinterließ

Jede Epoche hat ihre Außenseiter. Zu den Exzentrikern um 1900 gehörte ein New Yorker Versicherungsangestellter, der Feierabends gerne ein wenig komponierte. Zu seinen Werken gehört die musikalische Beschreibung eines Footballspiels zwischen Yale und Princeton und ein akustisches Porträt des Central Park bei Nacht. Und er hegte den Traum einer Sinfonie, bei der „mehrere Orchester mit großen Ansammlungen von singenden Männern und Frauen in Tälern, an Hängen und auf Berggipfeln“ platziert werden sollten.

Charles Edward Ives (1874 bis 1954) hat viele Errungenschaften der Avantgarde vorweggenommen. Aber der Eigenbrötler aus Connecticut mied die Öffentlichkeit und zog sich völlig vom Musikleben zurück, als er in den Dreißigerjahren endlich die fällige Anerkennung fand. Anlässlich seines 50. Todestags hat das Festival MaerzMusik dem Komponisten jetzt ein Konzertwochenende gewidmet – mit wichtigen Werken des Meisters und seiner vermeintlichen Epigonen.

„Ives & Consequences“ hatte man die Konzertreihe übertitelt und damit die Frage nach Aktualität und Bedeutung des Komponisten aufgeworfen. Zunächst wird man auch von lauter Parallelen geschlagen: Mikrointervalle, Polytonalität, Fernorchester und Collage. Alles Aspekte, die schon von Ives in Experimenten erprobt und erarbeitet wurden und die heute als große Errungenschaften der zeitgenössischen Musik gefeiert werden. Aber bald wird deutlich, dass sich heute kaum ein Komponist auf Ives bezieht. Die Hommagen – von anerkannten Größen wie James Tenney und Walter Zimmermann – sind allesamt Auftragswerke der MaerzMusik, die kaum aus eigenem Antrieb und lauter Liebe zu Ives entstanden sind. Und da verwundert es auch nicht, dass dem englischen Komponisten Michael Finnissy das Material seiner Ives-Rhapsodie immer wieder entgleitet, wie ein historischer Fund, der in den Händen des Archäologen zu Staub zerfällt. „Jeder sollte die Chance haben, nicht übermäßig beeinflusst zu werden“, hat Ives einmal gesagt, und es scheint, als hätten spätere Komponisten diesen Satz vor allem auf seinen Urheber angewandt. Aber ist es überhaupt denkbar, dass sich einer wie Ives in der geschichtssüchtigen Musik des 20. Jahrhunderts nicht niederschlägt?

Ives arbeitete vor einem problematischen Ideenhorizont. Der Diskurs, an dem Ives um 1910 partizipierte, hieß „Amerika“. Ihm ging es um die esoterischen Naturphilosophien Ralph Waldo Emerson und Henry David Thoreau, um pietistische Frömmelei und die „einfachen Schönheiten“ der so „einfachen Leute“. Mit den Klangexperimenten und der Rebellion gegen bestehende Musiken, den wilden Zitatcollagen und dem wütende Krach verlieh Ives dem jungen Amerika eine akustische Identität. Und dieser ideologischen Ladung sind jüngere Künstler offenbar doch lieber ausgewichen. Zumal Experimente ja in den Dreißigerjahren auch von Komponisten wie Henry Cowell und Lou Harrison gepflegt worden sind. Denn, auch das wurde an diesem Wochenende deutlich, die ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts sind, mit und ohne Ives, eine Zeit gewesen, in der die Musik Freigang hatte und die zum Aufbruch offenbar geradezu herausforderte.

Nur in einem Punkt wird man Ives seine Rolle als Vorreiter nicht streitig machen wollen. Er hat die amerikanische Kunstmusik vom Knebel der europäischen Tradition befreit. Und wenn man dem heilvollen Orchesterdurcheinander bei Christian Wolff oder den harzigen Vierteltontrauben bei Phil Niblock begegnet, kann kein Zweifel daran bestehen, dass es einst Charles Ives war, dessen Liebe zur Musik und dessen Misstrauen gegen die geronnene Kultur der Klassik amerikanischen Komponisten einen eigenen Weg bereitete. BJÖRN GOTTSTEIN