Sein Charisma wirkt weiter

Der Tod Scheich Jassins wird die Hamas nicht zerschlagen, sondern noch weiter radikalisieren. Und Jassir Arafat wird dadurch geschwächt

AUS JERUSALEMSUSANNE KNAUL

Die Exekution des Hamas-Gründers Scheich Ahmed Jassin lässt die Popularität der islamischen Widerstandsorganisation auf neue Höhen steigen. Dazu bedarf es keiner Umfragen. Die Bilder aus der Stadt Gaza, in denen sich hunderttausende trauernde Palästinenser zur Beerdigung des muslimischen Führers versammeln, sprechen für sich. Dabei geht es nicht nur um den Angriff auf „einen von uns“, sondern um die Ermordung eines Mannes, der gerade für die Notdürftigen und Armen Lösungen gefunden hat; es geht um den Vater eines Sozialapparats mit Waisenhäusern, Kliniken, Altenheimen und Behinderteneinrichtungen.

Er selbst war nach einem Sportunfall seit seiner Jugend an den Rollstuhl gebunden, bis zum Hals gelähmt und auf Hilfe angewiesen, wenn er nur einen Schluck Tee trinken oder etwa telefonieren wollte. Trotz seiner physischen Hilflosigkeit schien sich seine Erscheinung nahtlos in das Klischee des bösen Mannes zu fügen, wenn er mit seiner hohen, gespenstischen Stimme die Anschläge auf israelische Kinder rechtfertigte und den Freitod für die Sache des Volkes und Allahs verherrlichte.

Trotz und vielleicht gerade aufgrund seiner Behinderung verfügte er über das Charisma eines Mannes, der seine Anhänger in seinen Bann zu ziehen versteht. Nahezu im Alleingang verfolgte er unter dem Einfluss der ägyptischen Muslimbrüder – ein Jahr lang studierte er in Kairo Arabisch und englische Literatur – die Verbreitung des Islam im Gaza-Streifen.

In den 60er- und 70er-Jahren entstand ein ganzes Netzwerk an Moscheen und sozialen Einrichtungen, Kindergärten und Jugendclubs, aus denen er später wohl einen Teil der militanten Aktivisten rekrutierte. In den ersten Jahren lehnte er indes den gewaltsamen Kampf gegen die Besatzung ab. Auf Druck seiner Anhänger begann er die Idee einer militanten Front aufzugreifen. Im August 1988, wenige Monate nach Beginn der ersten Intifada, wurde die Hamas, als eine Art militanter Arm der Muslimbrüder, gegründet. Scheich Jassin bestand bis zum Schluss darauf, dass er mit der Organisation von Attentaten nichts zu tun habe. Der militärische Arm arbeite unabhängig von der politischen Führung.

In Israel galt er hingegen als Drahtzieher von Gewaltakten und wurde 1989 zu lebenslanger Haft verurteilt. Seine Befreiung folgte knapp zehn Jahre später nach einem missglückten israelischen Mordanschlag auf den Hamas-Führer Chaled Maschal in Jordanien. Israels damaliger Premierminister Benjamin Netanjahu hatte keine andere Wahl, als Jassin freizulassen, um die durch den Mordanschlag belasteten Beziehungen zur jordanischen Monarchie zu retten und zwei in Amman verhaftete Mossad-Agenten zu befreien.

Der Scheich nahm seinen alten Platz als spiritueller Führer wieder ein – an der Seite einer Gruppe jüngerer politischer Köpfe. Der Kinderarzt Dr. Abdel Asis al-Rantisi galt als sein engster Vertrauter und Stellvertreter und wird nun vermutlich das Kommando der Organisation übernehmen. Er ist weniger mythenumwoben, weniger charismatisch als Jassin, jedoch für seine politische Linie wird er in den kommenden Wochen Sympathie genießen, weil sie noch radikaler ist als die des Scheichs.

„Wir werden keinen einzigen Juden in Palästina lassen. Wir werden sie bekämpfen mit all unserer Kraft“, sagte er im Sommer letzten Jahres, kurz nachdem er selbst einer versuchten Exekution entkam. Israels Premierminister Ariel Scharon nannte er einen „Lügner“, einen „Terroristen“ und „Nazi“. „Mit Allahs Hilfe werden wir beide töten, Scharon und seinen Freund [den Oppositionschef Schimon, d. Red.] Peres.“

Für den Nachfolger Jassins, sei es Rantisi oder doch noch ein anderer, stehen nicht nur die Vergeltung und der verschärfte Widerstand gegen die israelische Besatzung auf der Agenda, sondern auch der innenpolitische Machtkampf. Die Hamas wurde unter den Palästinensern schon immer als eine Organisation betrachtet, die im Gegensatz zur palästinensischen Führung nicht in den Verdacht der Korruption geriet und deren Aktivisten zudem zum höchsten Opfer für die Befreiung von der Besatzung bereit sind. Umfragen zeigen, dass die Sympathie für den militanten Widerstand steigt, je stärker die israelische Armee ihn zu bekämpfen sucht. Die Hinrichtung Jassins macht die Vorstellung endgültig zur Utopie, die palästinensische Führung könne nach dem geplanten israelischen Abzug aus dem Gaza-Streifen die terroristische Infrastruktur zerschlagen und Verhaftungen vornehmen.