Racherufe nach Tod von Scheich Jassin

Israel tötet mit gezieltem Luftschlag den geistlichen Führer der islamistischen Hamas. Palästinenser kündigen Israel Vergeltung „mit hunderten Toten“ an. Hunderttausende trauern in Gaza. Weltweit Besorgnis wegen Eskalation im Nahostkonflikt

BERLIN afp/dpa/ap/taz ■ Mit der gezielten Tötung des Hamas-Führers Scheich Ahmed Jassin hat Israel den Nahostkonflikt auf eine neue Stufe der Eskalation getrieben. Israelische Hubschrauber feuerten am Montagmorgen drei Raketen auf den im Rollstuhl sitzenden geistlichen Führers der radikalislamischen Palästinenserorganisation, als dieser eine Moschee in Gaza verließ. Der 67-Jährige war sofort tot. Mit ihm starben sieben weitere Palästinenser, darunter Jassins Schwiegersohn.

Hamas drohte mit der Tötung hunderter Israelis: „Alle Muslime der islamischen Welt haben die Ehre, an der Antwort auf dieses Verbrechen mitzuwirken“, erklärte ihr bewaffneter Arm, die Essedin-al-Kassam-Brigaden. Da Israel den gezielten Angriff auf Jassin „nicht ohne Zustimmung der terroristischen US-Regierung“ geführt habe, müsse sich auch diese „für das Verbrechen verantworten“. Hamas-Führer Abdel Asis al-Rantissi erklärte Israel den „offenen Krieg“.

Die Arafat-nahen Al-Aksa-Brigaden kündigten einen Gegenschlag schon „in den kommenden Stunden“ an. Palästinenserpräsident Jassir Arafat verurteilte die Tötung Jassins als „barbarisches Verbrechen“ und ordnete drei Trauertage an.

Mehr als 200.000 Palästinenser nahmen wenige Stunden nach dem Angriff an einem Trauermarsch für Jassin teil. Mit Waffen und Bannern geleiteten sie die Toten zu ihrer letzten Ruhe. „Scharon hat die Pforten der Hölle geöffnet. Nichts wird uns daran hindern, ihm den Kopf abzuschlagen“, sagte Ismail Hanijeh, ein Vertrauter Jassins.

Bei Zusammenstößen zwischen israelischen Soldaten und Demonstranten in den Palästinensergebieten starben sechs Palästinenser. Vom Libanon aus schossen Hisbollah-Milizionäre Raketen und Granaten auf Israel, das mit einem Luftangriff reagierte.

Israel rechtfertigte die gezielte Tötung Jassins. Verteidigungsminister Schaul Mofas erklärte, Jassin sei „der palästinensische Bin Laden“ gewesen, Ministerpräsident Ariel Scharon nannte ihn einen „Erzmörder“. Scharon selbst soll die Anordnung für den Anschlag gegeben haben.

Dagegen bezeichnete Oppositionsführer Schimon Peres die Tötung als einen „Fehler“. Der Friedensaktivist Uri Avnery sagte: „Dies ist schlimmer als ein Verbrechen, es ist ein Akt von Dummheit.“ Die Tötung gefährde die existenzielle Sicherheit Israels, denn damit werde aus einem nationalen zusätzlich ein religiöser Konflikt.

Weltweit stieß das Attentat auf Kritik. Die EU-Außenminister erklärten in Brüssel, die so genannten außergesetzlichen Tötungen „stehen nicht nur internationalem Recht entgegen, sie unterlaufen auch das Prinzip des Rechtsstaats, der im Kampf gegen den Terrorismus ein Schlüsselelement ist“. Bundesaußenminister Fischer äußerte sich besorgt über die Zukunft des Nahost-Friedensprozesses. Vertreter der Vereinten Nationen, der USA, Russlands und der EU wollten gestern Abend in Ägypten zu Krisengesprächen zusammenkommen. Aus Protest sagte Ägypten die Feierlichkeiten zum 25. Jahrestag des Camp-David-Abkommens ab. UN-Generalsekretär Kofi Annan erklärte, die Tötung verstoße gegen internationales Recht und sei ein Hindernis auf dem Weg zum Frieden im Nahen Osten.

Die USA wurden nach Angaben von Sicherheitsberaterin Condoleezza Rice nicht vorab über Jassins Tötung informiert. Sie verurteilte den Anschlag nicht: „Lassen Sie uns daran denken, dass Hamas eine Terrororganisation ist und dass Scheich Jassin, wie wir glauben, persönlich an Terrorplanungen beteiligt war“, sagte Rice. KLH

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