Ein Scherz für Friesen

Schon der römische Geschichtsschreiber Tacitus wusste: Frisia non cantat! Schon deshalb sang der berühmteste Komiker des platten Landes kein Lied zu Ende, als er am Montagabend im Tempodrom durch seine Best-of-Show „100 Jahre Otto“ hechelte

VON HELMUT HÖGE

Otto Waalkes ist der letzte große Ostfriesenphilosoph. Außerdem ist er ein großer Mäzen seiner Heimatstadt Emden, wo am Delft das „Otto-Huus“ steht und alljährlich zum Filmfestival ein „Ottifant“ in Bronze vergeben wird. Der Oberbuchhalter der dortigen Sparkasse gibt jedoch zu bedenken: „Früher, als Otto noch in der Scheune hinten am Deich spielte, war er viel besser.“ Mag sein, aber irgendwann in den Siebzigerjahren begann Otto, Deutschland zu erobern.

Dass er seitdem nicht unbedingt schlechter geworden ist, konnte man am Montagabend gerade wieder im nahezu voll besetzten Tempodrom erleben. Vorab liefen schon mal einige seiner Wortwitze über die Leinwand. Dann kam er – pünktlich um acht, mit ein paar Takten „Bin ein kleiner Friesenjunge“, und hörte nicht auf herumzuzappeln bis zur vierten Zugabe: Ein Gag, ein Sketch nach dem anderen – dazwischen einige Mitsing-Nummern, die Rede eines besoffenen Bundestagsabgeordneten, das Lied „Mein kleiner grüner Kaktus“ und seine berühmte Hecheltanzeinlage – heuer zusammen mit einer großen, echt russischen Ballerina.

Doch Otto beließ es nicht bei solchen, fast schon nostalgischen Selbstzitaten. Ältere Nummern wie etwa seinen Englischkurs hatte er auf das ganze Internet-E-Mail-Gequatsche sowie auf die 0190-Nummernwerbung upgedatet. Sogar ein bisschen Klassenkampf war dabei: Nämlich immer dann, wenn die teure erste Reihe hämisch mit Flüssigkeiten, Fruchtstückchen oder Schlagsahne in Mitleidenschaft gezogen wurde. Mehr kann man nicht verlangen! Das dachte auch wohl die Mehrheit der Zuschauer, von denen sich viele für diesen Abend extra aufgebrezelt hatten und ein wenig aussahen wie die Rock- und Popsänger, die draußen von den Vorankündigungsplakaten grinsten: leblos.

Ganz anders Otto, der in seiner ganzen Hässlichkeit wie ein aufgeputschter Derwisch „100 Jahre Otto“ durchhechelte – so der Titel seines aktuellen Programms. Alle und alles wurde nur angerissen oder gestreift. Harald Schmidt etwa mit einem Schluck aus einem Wasserglas und der Bemerkung „Das neue Kultgetränk: WOG – Wasser ohne Geschmack“. Und sofort folgt der Evergreen „Fallin’ in Love“ – dazu eine Stelltafel, die zwei Pferde und ein Herz zeigt: „Fohlen in Love“. Und so weiter und so fort.

Dabei fiel auf, dass Otto immer noch am Liebsten englische Phrasen verdreht. Sie sind ja auch aus dem Plattdeutsch der Angeln und Sachsen entstanden – das Angloamerikanische ist sozusagen bloß breit verquastes Friesisch.

Historisch verwirrend waren allein die vielen Lieder, meist Verballhornungen bekannter Songs von Reinhard May, Freddy Quinn und Bob Dylan. Denn: Friesen singen eigentlich nicht!

Schon bei Tacitus heißt es kategorisch „Frisia non cantat!“ Das kommt, weil freie Menschen nun mal nicht singen – nur Sklaven! Und die Friesen waren fast immer frei: Sie haben mehrere Schlachten gegen Adels- und Bischofsheere gewonnen und erfolgreich städtische Revolutionen durchgeführt. Um 1230 wird ihnen quasi offiziell bescheinigt: „omni jugo servitutis exuti“ – sie haben das Joch der Knechtschaft verlassen.

„Seltsam nahm sich Friesland unter den deutschen Territorien aus“, schreibt der westfriesische Historiker I. H. Gosses: „Kein Graf, keine Lehnsleute, fast keine Ritter, keine Unfreien, keine ummauerten Städte; ein Land freier Bauern.“ In dem die „Amtsgewalt nicht von oben – von einem Grafen, der den König vertritt, sondern von unten, aus der Rechtsgemeinde“ hervorgeht, deren Bemühungen schließlich in das kodifizierte Stammesrecht „Lex Frisiorum“ münden.

Was Ostfriesland betrifft, so verlor es seine Selbstständigkeit endgültig erst durch die verdammten Preußen. Das in Emden vorm Delft aufgestellte Preußendenkmal wurde deswegen 1918 sofort wütend hintern Deich geschafft – wo es noch immer steht. Und bis heute wissen die Friesen Deutschland und Friesland sauber zu unterscheiden. So antwortete mir etwa der Emder Bürgermeister auf die Frage, was er früher gewesen sei: „Die bisherige ostfriesische Evolution verlief vom Bauern und Fischer über den Hafen- und Werftarbeiter zum VW-Arbeiter. Ich habe ebenfalls auf der Werft gearbeitet, aber dann auch in Deutschland: vier Jahre in Köln, dann bin ich wieder nach Emden zurückgegangen.“

So wie ihnen Deutschland übergestülpt wurde, hat man den Friesen auch „ihr“ Liedgut untergeschoben: Das berühmte „Friesenlied“ etwa stammt von einer Frauenredakteurin aus Zingst am Darß an der Ostsee, wo es ringsum immer nur Unfreie gab – und deswegen eine ausgeprägte Gesangskunst (vor allem in Estland und Lettland).

Das, was Otto macht, ist dagegen mitnichten eine Kapitulation nach Noten, sondern aktiver Widerstand auf der Bühne: Da wird sich über die ganzen Gesänge der Ostseeanrainer und der Geestbewohner gehögt, ihre Lieder werden zerpflückt, verblödelt, auf einen – möglichst zotigen – Witz reduziert.

Deswegen wird Otto Waalkes so geliebt: Weil er immer noch gegen den täglich anschwellenden Bocksgesang anstinkt. Wobei er sich nicht entblödet, dies auch noch unfriesisch schnell und hektisch durchzuexerzieren. Aber eines würde er niemals tun: ein Lied zu Ende singen.