Vor dem Abitur streiken die Pariser Lehrer

Die Proteste in Frankreich gegen die „Dezentralisierung“ der Schulen halten unvermindert an

„Ich werde die Zustimmung der Lehrer nicht erkaufen.“

PARIS taz ■ Verkehrte Welt an Frankreichs Schulen: In Toulouse ketten Lehrer Schultore zu, in Perpignan stehen Lehrer in dicht geschlossenen Reihen untergehakt als Streikposten, und in Rodez benutzen Lehrer Bücher als Wurfgeschosse. Ihnen stehen Schüler gegenüber, die darum betteln, in die Schule gehen zu dürfen. Viele von ihnen sind hin und her gerissen zwischen Sympathie mit der Sache ihrer Lehrer und Angst vor einem Ausfall ihrer Abiturprüfung wegen des Streiks. Über allen thront ein Erziehungeminister, der seit seinem Amtsantritt vor einem Jahr als lächelnder Softi auftritt und der angesichts der jetzigen Kraftprobe mit den Lehrern alle möglichen Sanktionen androht und hinzufügt, dass er gar nicht daran denke, irgend etwas von seiner Schulreform zurückzuziehen. Minister Luc Ferry wörtlich: „Ich werde die Zustimmung der Lehrer nicht erkaufen.“

Weit mehr als die Hälfte der französischen Lehrer aller staatlichen Schulstufen – an manchen Schulen sogar mehr als 80 Prozent – waren gestern landesweit in Frankreich im Streik. Eine Minderheit von ihnen befindet sich schon seit Wochen im Streik. Die große Mehrheit aber hat sich der Bewegung seit dem nationalen Aktionstag gegen den Rentenabbau am 13. Mai angeschlossen. Ihr Protest richtet sich gegen die geplante Verlängerung der Arbeitszeit über das 60 Lebensjahr hinaus und gegen die Senkung der Rentenbezüge, wie überall im öffentlichen Dienst. Doch bei den Lehrern kommt ein spezifisches Element hinzu: Der Erziehungsminister will die staatlichen Schulen „dezentralisieren“. Das bedeutet unter anderem, dass ein Teil des Personals – darunter die Aufsichtspersonen, Sozialarbeiter und Krankenschwestern an den Schulen – nicht mehr von Paris, sondern von den Regionen finanziert werden wird.

Oder eben nicht. Denn Frankreichs 22 Regionen sind ganz unterschiedlich ausgestattet. Dort, wo die Steuereinnahmen hoch sind, dürfen die Lehrer davon ausgehen, dass ihre Schulen auch in Zukunft gut ausgestattet und das Aufsichtspersonal ausreichend sein wird. Dort, wo die Arbeitslosigkeit und das Unternehmensterben grassieren, würden die Schulen leiden. Die égalité der Franzosen in der staatlichen Bildung – die Gleichheit – wäre nicht mehr gewährleistet.

Von dem sozialen Gefälle zwischen den Regionen nicht begünstigt ist das südwestfranzösische Rodez. Das ist eine Erklärung für die Wurfgeschosse in Buchform. Die andere Erklärung sind der Autor und der Inhalt des Buches. Es handelte sich dabei um ein hunderttausendfach gedrucktes Exemplar einer Streitschrift, in der der Erziehungsminister seine „Reformpläne“ vorlegt. Das erklärt auch, warum seine Regierung für den Erziehungsbereich so viel weniger Haushaltsmittel mobilisiert als für die Polizei und die Landesverteidigung.

Über die Proteste der Lehrer, die in Frankreich das von der Verfassung garantierte Streikrecht haben, sind in Paris schon einige Erziehungsminister gestolpert. Doch Luc Ferry hat noch nicht aufgegeben. Gestern Abend begann er zusammen mit seinem für Berufsschulen zuständigen Vizeminister Xavier Darcos eine neue Verhandlungsrunde mit den Vertretern der Gewerkschaften. Letzere rufen zu einem neuen Aktionstag am Donnerstag auf. Außer mit Verhandlungen versucht es Ferry auch mit Sanktionen. Er droht damit, die Lehrer für die Abiturprüfungen zwangszuverpflichten. So wie es die rechte Regierung im Mai 1968 tat.

Schüler und Vertreter von Elternverbänden nehmen stellenweise an Lehrerdemonstrationen teil. Manche Schüler stehen sogar Streikposten für ihre Lehrer. Nur vereinzelt gehen ein paar Dutzend Schüler gegen den Lehrerstreik auf die Straße. Doch zugleich zittern jene, denen in nur noch drei Wochen das „bac“ – das Abitur – bevorsteht, um ihre Prüfung. Manche Lehrergewerkschaften drohen, dass sie notfalls auch die Abiturprüfungen bestreiken werden.

DOROTHEA HAHN