Bahn frei für die EU-Verfassung

Besuch des Kanzlers beim polnischen Kollegen Miller zeigt Ergebnisse: Polengibt Blockade auf. Jetzt geht es nur noch um die genaue „Abstimmungsformel“

WARSCHAU taz ■ Details wollten weder Bundeskanzler Gerhard Schröder noch Polens Ministerpräsident Leszek Miller verraten. Doch beiden war in Warschau die Erleichterung anzusehen: Es wird eine EU-Verfassung geben. Polen gibt seine Blockade auf, und auch Deutschland wird im einen oder anderen Punkt zurückstecken. Grundlage der Diskussionen wird die doppelte Mehrheit, wie vom Verfassungskonvent vorgeschlagen: Entscheidungen im EU-Ministerrat sollen künftig mit der Mehrheit der Staaten und der Mehrheit der Bürger getroffen werden.

Hier lenkte Miller ein: Die Parole „Nizza oder Tod“ gilt nicht mehr. Mit dieser „patriotischen“ Verteidigungshaltung hatte die liberale Opposition die Regierung Polens in die Verhandlungssackgasse geführt. Auf dem EU-Gipfel in Nizza waren Polen und Spanien fast ebenso viele Stimmen im EU-Ministerrat zugesprochen worden wie den vier „Großen“: Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Italien. Diese Machtstellung wollte Polen nicht aufgeben. Doch Polens einziger Verbündeter Spanien kündigte nach dem Wahlsieg von José Zapatero eine europafreundlichere Politik an und machte damit auch für Polen den Weg frei.

Dennoch soll auch bei der noch zu findenden Abstimmungsformel das „besondere Gewicht“ Polens berücksichtigt werden. Offen diskutiert wird die „55er-Lösung“: Ein Beschluss im EU-Ministerrat könnte gelten, wenn 55 Prozent der Staaten zustimmen, die mindestens 55 Prozent der EU-Bevölkerung repräsentieren. Diese Lösung würde die kleinen Staaten stärken. Der Entwurf der im Dezember gescheiterten EU-Verfassung sah eine doppelte Mehrheit mit 50 Prozent der Staaten und 60 Prozent der Bevölkerung vor.

Beiden Regierungschefs war daran gelegen, den Ärger, die gegenseitigen Vorwürfe und Misstöne der letzten Monate auszuräumen. „Wir haben eine Bestandsaufnahme gemacht“, so Miller, „und sind zu dem Schluss gekommen, dass die Interessengemeinschaft zwischen Polen und Deutschland fortbesteht. Auch wenn es mal Meinungsverschiedenheiten gibt zwischen uns, werden wir weiterhin gut zusammenarbeiten.“ Dies gelte insbesondere bei Sicherheitsfragen und Terrorbekämpfung.

Für Polen steht im Herbst ein ganz besonders wichtiger Jahrestag an: 60 Jahre Warschauer Aufstand. Miller lud Schröder ein, an den Feierlichkeiten teilzunehmen. Beim Warschauer Aufstand kamen hunderttausende Zivilisten ums Leben. Wehrmacht und SS sprengten in Warschau Straße für Straße und machten so die Hauptstadt Polens zur Trümmerwüste. Schröder nahm nicht nur die Einladung an, sondern verurteilte zugleich scharf die „dubiosen“ Eigentumsforderungen der Preußischen Treuhand, einer Vertriebenen-Organisation, die Polen nach dem Beitritt des Landes zur EU mit Sammelklagen überziehen will.

GABRIELE LESSER