Regeln sind zum Brechen da

Dogma 95 revisited: Das Lichtmeß zeigt erstmals in Hamburg die Dokumentation „The Purified – Die Geläuterten“, in der vier Dogma-Regisseure über die eigenen Regeln und ihre Brüche philosophieren – und sogar lachen

Der Verzicht auf bestimmte filmische Stilmittel soll ein Kino neuer Authentizität hervorbringen. So das Credo des Dogma 95. Der Wirbel um dieses cineastische Ökosiegel aus Dänemark hat sich inzwischen gelegt. Lars von Trier hatte es 1995 zum 100. Geburtstag des Kinos als puristische Revolution der Filmgeschichte ausgerufen. Heute ist es seinerseits Geschichte.

Zeit also für eine kritische Revision. Zu einer solchen im Wortsinn hat der dänische Dokumentarfilmer Jesper Jergil die Regisseure der ersten vier zertifizierten Filme eingeladen. Die Idee von The Purified ist bestechend: Jergil konfrontiert die vor der Glotze versammelten Herren von Trier (Idioten), Thomas Vinterberg (Das Fest), Søren Kragh-Jacobsen (Mifune) und Kristian Levring (The King Is Alive) mit Making-of-Sequenzen, Filmausschnitten und Kommentaren des Drehbuchautors Mogens Rukov. Die vier sticheln freundschaftlich und analysieren Regelverstöße.

Davon gibt es viele. So klemmte man in Das Fest heimlich ein Handtuch ins Fenster, um das Licht zu dimmen – Regel vier: keine Lichttechnik erlaubt. Offensichtlicher: In Idioten ist Musik zu hören, die nicht aus der sichtbaren Szene stammt. Von Trier, der einen Musiker neben der Kamera herlaufen ließ, verteidigt sich haarspalterisch: Regel zwei besage wörtlich, Musik sei nur dann ausgeschlossen, wenn sie nicht dort vorkomme, „wo die Szene gedreht wird“. Wie bei jedem Gesetz verrät auch hier die Treue zum Buchstaben seinen Geist.

Kaum weniger absurd ein Streit von Triers mit seinem Kameramann. Der braucht ein Verlängerungskabel, Regel eins verlangt aber die Beschränkung auf vor Ort vorgefundene Materialien. Von Trier herrscht ihn an, man solle ein Kabel am Drehort suchen, einem Haus: „Habe ich die Regeln geschrieben oder du?“ Darüber lachen die vier beim Wieder-Sehen natürlich herzlich, Großinquisitor von –Trier allen voran. Solche Kabbeleien sind unterhaltsam, die Paragraphenreiterei kennt man aber aus den seinerzeitigen Kritiken. Aufschlussreicher sind die prinzipiellen Reflexionen der Dogmatiker.

Für Vinterberg ist Dogma der Versuch, durch selbst auferlegte Fesseln mehr gestalterische Freiheit zu erlangen. Kein grundstürzender Gedanke, ähnlich hatte ihn auch schon die Weimarer Klassik. Vinterbergs Naivität kann aber kaum verwundern, ist doch Das Fest bei aller entfesselter Selbstfesselung über eine Betroffenheits-Soap nicht hinausgekommen. Die anderen erkennen an, dass Idioten das Dogma am strengsten befolgt hat, während sie selbst auf Publikumswirkung spekulierten. Tatsächlich hat von Trier die Regeln ja nicht nur formal angewandt, sondern als Einziger auch inhaltlich reflektiert: im sozialen Regelbruch des Gaga-Spielens oder im Regelwahn des Regisseurs Stoffer, seinem Alter Ego.

Dann endlich streift die Runde den springenden Punkt: Ist der Verzicht auf bestimmte Stilmittel nicht selbst ein Stilmittel – und die vermeintliche Authentizität nicht um so verlogener? Leider legt Regisseur Jergil nicht den Finger in die Wunde, sondern lässt sich von der Selbstironie bezirzen, mit der sich das Dogma gegen solche Widersprüche imprägniert. The Purified, alles andere als ein Dogma-Film, unterstützt durch Schnitt und Sound die religiöse Koketterie der Truppe, ohne ihre Brisanz zu erkennen. JAKOB HESLER

Do–Sa, 20 Uhr, Lichtmeß