Familie als gefährlicher Ort

Der Protagonist von Tim Parks‘ neuem Roman „Doppelleben“ scheitert beim Versuch, die verflochtenen Stränge seiner Existenz zu Gunsten der Wahrheit aufzulösen. Lesung im Literaturhaus

von CAROLA EBELING

„Es waren nur sie beide, sagte er sich jetzt, aber eine ganze Welt, die gebrannt hatte, gebrannt in vielfacher Art und Weise, die er sich nicht vorstellen konnte, die niemand unter Kontrolle hatte.“

Erst spät lässt der britische Autor Tim Parks die Hauptfigur seines neuen Romas Doppelleben zu diesem geläuterten Blick auf seine fast zwanzigjährige Ehe gelangen. Antreten lässt er ihn mit dem Entschluss, glücklich zu sein. Der erfolgreiche Jurist Daniel Savage nimmt seine Ernennung zum Richter zum Anlass, seinen zahllosen Affären ein Ende zu setzen. Im Beruf der Suche nach der Wahrheit verpflichtet, soll diese von nun an auch sein Privatleben bestimmen. Ein neuer Lebensabschnitt soll beginnen und sich im Kauf eines neuen Hauses manifestieren, in das er samt Frau Hilary, Tochter Sarah und Sohn Tom einzieht. „Endlich herrscht Klarheit. Die Zeit der Metamorphosen ist vorbei. Ich habe mich selbst gefunden“, notiert er in seinem Tagebuch.

So viel naive Selbstgewissheit schreit nach Widerlegung. Und in der Tat zelebriert Tim Parks in Doppelleben die Zertrümmerung jeglicher Gewissheiten, über die sein Held je zu verfügen glaubte – über sich selbst, die Menschen, denen er in Liebe oder Freundschaft verbunden scheint und ist; über Ideen und Vorstellungen, die ihm viel bedeuten.

Der Anruf einer ehemaligen koreanischen Geliebten wirft Savage allerdings schnell aus der geraden Spur, in die er sein Leben nun lenken wollte. Sie ist in Not, und seine halbherzigen Versuche, zu helfen, führen dazu, dass er von ihren Verwandten fast zu Tode geprügelt wird. Um seinen Ruf zu schützen und den neuen Frieden mit seiner Frau nicht zu gefährden, verstrickt er sich erneut in Halbwahrheiten –die weitere Krisen mit Hilary heraufbeschwören.

Wie schon in seinem vorigen Roman Schicksal ist die Familie bei Parks ein gefährlicher Ort. Ein dichtes Netz aus Sehnsüchten, Begierden, Eifersucht und Verletzungen, das sich zwischen allen aufspannt, sie zugleich verbindet und trennt. Warum behauptet seine Tochter, sie wäre glücklicher alleine mit ihrer Mutter, obwohl sie sich doch immer besser mit ihm verstanden hat? Ist es möglich, dass sie ihm die religiös-obszönen Drohbriefe geschickt hat, die ihn des fortgesetzten Ehebruchs beschuldigen? Woher rührt die Strenge seiner Frau gegenüber der Tochter? Wer hat Hilary vor einem Jahr von einer seiner Affären erzählt und damit fast die endgültige Trennung herbeigeführt?

Parks erweist sich als sehr genauer Beobachter emotionaler Verstrickungen. Er lässt seinen Helden schwanken zwischen dem Beharren darauf, dass alles wieder gut wird, und der Erkenntnis, dass er nicht nur keine Verfügungsgewalt über sein Leben beanspruchen, sondern dass er es auch nicht verstehen kann. Als Hilary ihn schließlich verlassen will, liegt darin auch Erleichterung: „Wenn ich erst einmal allein bin, habe ich es nicht länger nötig, mich von den Geheimnissen der Menschen um mich herum quälen zu lassen, von ihren Bedürfnissen und von der Art ihrer möglichen Beziehung zu mir.“ Die Wahrheit – so leicht sich der Blick auf sie durch ein weiteres Indiz oder eine andere Perspektive im Gerichtssaal verschiebt, so flüchtig ist sie ihm in Bezug auf die ihm nächsten Menschen und ihre gemeinsame Geschichte geworden.

Parks erzählt schnell und in einem Stil, der die Getriebenheit und auch körperliche Angeschlagenheit Savages sehr gut zum Ausdruck bringt: Lange Gedankenströme, plötzlich einbrechende Dialoge und Wahrnehmungen der Außenwelt wechseln oft abrupt ab. Das Doppelleben, das letztlich jeder führt – Parks ist nicht bereit, es aufzulösen. Weder für Savage noch für irgendeinen Leser.

Tim Parks: Doppelleben. München: Verlag Antje Kunstmann 2003, 440 S., 24,90 Euro. Lesung: Do, 22.5., 20 Uhr Literaturhaus, Schwanenwik 38