Die Verwandlung der Dinge

Seit fünf Jahren entwickeln junge Designer in der Kreuzberger Blindenanstalt Bürsten mit neuer Funktion. Die Korbmacherei ließen sie bisher links liegen. Dann protestierte die Werkstattleiterin

Die Blinden sehen mit Hilfe ihrer Fantasie, die Designer sehen die Zukunft der Dinge Wer heute mit Leuten in der Korbmacherei spricht, spürt Auf-müpfigkeit und Stolz

von WALTRAUD SCHWAB

„Man beginnt mit einem Kreuz“, sagt Katrin Schröder, „später wird daraus eine Sonne.“ Ein Wunder! Beim Korbflechten ist das möglich. Mit ihren kräftigen, muskulösen Händen zieht die Werkstattleiterin der Blindenanstalt in der Oranienstraße die Weiden um das Geflecht. In die neu entstehenden Zwischenräume steckt sie, was bildnerisch gesprochen die Sonnenstrahlen sind. Im Korbmacherjargon heißt der Arbeitsvorgang „fitzen“. Katrin Schröder fitzt. Ginge es um ein klassisches Produkt ihres Handwerks, wäre sie dabei, den Boden eines Korbes zu machen. Davon aber ist sie im Moment weit entfernt.

Stattdessen führt die Korbmacherin junge Designer und Designerinnen in ihr Handwerk ein. Wo den Aspiranten die Weiden unter den Fingern zerbrechen, biegt sie das Rohr geschmeidig in Form. Es gilt: Die Eigenschaften des widerständigen Materials müssen begriffen werden. Nur dann können die Designer etwas daraus entwickeln, was nicht Korb und Korbstuhl ist. Etwas Neues. Etwas, was jenseits der tradierten Korbwelt liegt. Denn daran offenbart sich seit fünf Jahren das Geheimnis der Blindenanstalt: Hier hat die Imagination freien Lauf. Die Blinden sehen mit Hilfe ihrer Fantasie; die Designer aber sehen die Zukunft der Dinge.

Zwei Ereignisse kamen 1998 zusammen: Zum einen entdeckte das Kreuzberger Designerduo Vogt + Weizenegger, die Blindenanstalt. Zum anderen wurde im Bezirksamt überlegt, wie man die soziale Einrichtung loswerden könnte. Zu teuer angesichts der finanziellen Misere, wurde befunden. Wer brauche denn heute noch Bürsten und Besen? In Handarbeit gefertigt und „made in Germany“? Die Konkurrenz aus Asien hat den Markt längst überschwemmt. So verstaubt wie das Produkt war auch der Laden der Einrichtung, in dem Körbe von der Decke herunterhingen, Handfeger und Kehrbleche im Schaufenster standen. Dazu ein paar übereinander gestapelte Korbstühle in 100-jährigem Design und was sonst noch aus Schweinsborsten und Ziegenhaar, Weiden und Rohr gefertigt werden kann.

Wann immer Oliver Vogt und Hermann Weizenegger am Laden der Blindenanstalt vorbeigingen, und das taten sie täglich, wurden sie nostalgisch. Hier war Dornröschenschlaf. Die aufstrebenden Designer wollten niemanden wecken, als sie eines Tages die Tür zum Laden öffneten. Auch nicht als sie sich eine Bürste kauften und begannen, damit über Schuhe und Kleidung, die Hand des Freundes und sein Haar, das Buch, die Hauskatze und die Haut der Geliebten zu streichen. In jenem Augenblick aber war die Idee geboren, in einer Bürste mehr sehen zu wollen als einen Alltagsgegenstand. Einen, dem dazu noch ein Wohltätigkeitsmakel anhing: Dankbar, dass sie etwas zu tun haben, verneigten sich Blinde, viele von ihnen auch mit geistigen Behinderungen, vor dem Käufer eines Besens. Nicht nur der Einrichtung, auch den Menschen, die dort arbeiteten, war anzumerken, dass sie auf dem Abstellgleis standen.

In den letzten fünf Jahren hat sich das gründlich geändert. Wer nun mit den Blinden und Sehbehinderten in der Bürsten- und Korbmacherei oder den Leuten in der Stuhlflechterei spricht, spürt Aufmüpfigkeit und Stolz. Hier wird nicht mehr nur an die Barmherzigkeit der Gesellschaft appelliert, doch einen Schrubber, einen Rasierpinsel oder einen geflochtenen Blumenübertopf zu kaufen, von hier aus wird der Gesellschaft etwas zurückgegeben: Lebensfreude und die Lust, den Blick zu erweitern. Vogt und Weizenegger waren die Initiatoren. Sie überredeten die Verantwortlichen der Blindenanstalt, sie mögen Designstudenten und -studentinnen von der Fachhochschule Potsdam und der Universität der Künste erlauben, sich an Ort und Stelle mit dem Material und den Produktionsbedingungen auseinander zu setzen. Das Ziel dabei: neue Bürstendinge entwerfen. Als „DIM – die imaginäre Manufaktur“ macht dieses Experiment seither in der Oranienstraße Furore.

„Die imaginäre Manufaktur“ verwandelt, was gemeinhin als Besen, Topfkratzer oder Schuhbürste bekannt ist. Durch minimale konzeptionelle Eingriffe werden sie nun zu Bürstenbilderrahmen oder Schmuckkästchen, zu Obstnestern, Bürstenbällen oder Kruzifixen zum Kreuzkratzen. Die Designer und Designerinnen ergänzen den Charme des Unberührten mit der Frivolität der Alltags: Aus Spülen wird Spielen, aus Streichen wird Streicheln, aus einer Bürste für den Nacken wird eine zum Necken. Mit taktilem Sehen kontrollieren die Blinden im Bürstenuniversum die Formen und Muster, die unter ihren Händen entstehen. Die Designer wiederum denken sich Objekte aus, die im Rahmen des imaginativen Könnens der Blinden herzustellen sind. So beginnen moderne Wirklichkeiten. Mehr als 50 Dinge sind dabei entstanden.

Vier Jahre lang wurde in der Bürsteneinzieherei der Aufbruch geübt. Die Korbmacherei der Blindenanstalt aber wurde von allen Beteiligten in großem Bogen umgangen. Eine solche Verneinung ihres Handwerks mochte Katrin Schröder, die Werkstattleiterin, nicht länger hinnehmen. „Was für Bürsten geht, muss auch für Körbe gelten“, meinte sie. Vogt und Weizenegger ließen sich darauf ein. „Wickergames“ – Weidenspiele – wurde ins Leben gerufen. Vielleicht genau im richtigen Moment:

Denn wieder wird im Bezirksamt debattiert, wie die bald 125 Jahre alte Institution aus kommunaler Verantwortung entlassen werden könnte. Dieses Mal bestimmt. Freie Trägerschaft oder ein Stiftungsmodell schwebt Kerstin Bauer, der Sozialstadträtin von Friedrichshain-Kreuzberg, vor. Die Blindenanstalt könnte sich dann unabhängig von den öffentlichen Haushaltsgesetzen entwickeln und hätte Zugang zu Zuschüssen und Fördertöpfen, wird argumentiert. „Für die dort arbeitenden Blinden soll sich nichts ändern“, betont die Stadträtin, das werde in den Konditionen festgeschrieben. „Die Einrichtung ist einmalig. Vor allem auch in Kombination mit der imaginären Manufaktur.“

Diese nun experimentiert seit Monaten in der Blindenanstalt mit Weiden, mit Rohr und allen anderen widerspenstigen Naturmaterialen. Da werden Körbe zu Körperschmuck verarbeitet, da wird mit Weiden geflochten, da wird fingerdicke Sisalschnur mit Besenstielen verstrickt. „Um jenseits der Korbkonventionen denken zu können, muss der Ausbruch geübt werden“, meint Hermann Weizenegger. Die erste Kollektion der „Wickergames“ wurde vor kurzem vorgestellt. Darunter: riesige Korbflaschen ohne Boden, unter denen sich Kinder und Katzen verstecken können. Liegestühle in Form von Blättern, auf denen sich müde Körper ausruhen dürfen. Metergroße Donuts, in die alles hineingeworfen werden kann, was schnell verschwinden muss. Zusätzlich kann man darauf sitzen. „Alles sehr ernst“, sagt Weizenegger. „Das Schmunzeln, das im Bürstenuniversum den Ton angibt, ist bei „Wickergames“ eher im Überdimensionierten zu finden.“ Grobes Material wurde für einige der Objekte verarbeitet. „Korbrohr“ im Fachjargon. Unverwüstlich auch im Regen. Lianen aus dem Dschungel waren es einst. „Eine Woche lang mussten sie eingeweicht werden, damit wir sie überhaupt biegen konnten“, erzählt Schröder.

Bei den Blinden in der Korbmacherei ist die Designrevolution noch nicht richtig angekommen. Sie müssen sich erst an die Aufregung gewöhnen. „Ich frage mich, wer das kaufen soll“, meint Claus P. Er arbeitet an einem Hocker, an dem der Korb gleich dran ist. Ein Picknick-Fahrrad-Möbel oder Schuh-anzieh-Stuhl mit Korb für den Schuhlöffel könnte es sein. „Die Designer wollen was, und wir sollen es machen“, seufzt er. Als alten Kommunisten beunruhigen ihn, wie auch seinen Kollegen Wilde, eher die Gerüchte um die Zukunft der Blindenanstalt. „Man hört, das soll geschlossen werden“, sagt Claus P. „Mit uns hat aber noch niemand geredet. Das ist unfair. Die Leute, mit denen gesprochen wird, die haben eher wieder ’ne Chance, irgendwo ’ne neue Beschäftigung zu finden“, ergänzt Wilde. Zehn Jahre arbeitet er hier. Einer von 45 blinden Arbeitern und Arbeiterinnen.

„Die imaginäre Manufaktur ist mittlerweile eine Bewegung“, sagt Weizenegger. Sie spielt eine Vorreiterrolle bei der neu entdeckten Symbiose zwischen Design und kleinen, ortsgebundenen Fabriken, die unter internationaler Konkurrenz nur dann noch auf dem Markt eine Chance haben, wenn sie sich gegen die Massenware abgrenzen. „In einer Gesellschaft, in der die Arbeit ausgeht, wird die Bedeutung von Handwerk wieder gewinnen. Das Design muss die handwerklich gefertigte Arbeit ästhetisch aufnehmen und spiegeln“, sagt Vogt. Nicht nur die kleinen Fabriken, auch die jungen Designer profitieren davon. Zudem nützt jede ökonomische Stabilisierung der sozialen Infrastruktur von Stadtteilen wie Kreuzberg – nach jüngsten statistischen Erhebungen immer noch dem ärmsten Bezirk Berlins.

Um die neuen Produkte zu realisieren, arbeitet auch die Blindenanstalt mit einer ganzen Reihe kleiner Hinterhoffirmen zusammen: Die Verpackungen stellt eine Kreuzberger Kartonagenfabrik her. Stofffutter für Brotkörbe werden in der Wäscherei am Oranienplatz gefertigt. Eine Autolackiererei in der Gitschiner Straße ist ebenso dabei wie eine lokale Tischlerei. Die liefert die Holzteile für die Brandenburger-Tor-Bürste. Zwei Reihen à sechs Borstenbüschel werden als Säulen in die Holzstücke eingezogen; als goldenes Drahtbürstengeflecht sitzt die Quadriga obendrauf. In Notfällen dient das Objekt durchaus zum Kleiderausbürsten. Vogt + Weizenegger wurden um eine Präsentidee gefragt für einen Empfang in der deutschen Botschaft in Tokio. Just zum 3. Oktober war das. Die Torbürste kam dabei heraus. Wider alle anders lautenden Behauptungen beweist sie: Die Deutschen haben doch Humor!

DIM, die imaginäre Manufaktur, Oranienstraße 26, Kreuzberg, www.blindenanstalt.de