Jetzt auf die Zehenspitzen. Hoch die Arme!

Zwei Stunden Herumstehen, keine Bewegung: Die Massen, die täglich vor der Nationalgalerie warten, sind ein Fall für die Physiotherapeutin, findet Freda von Heyden-Hendricks. Darum turnt sie mit den Besuchern in der MoMA-Schlange

VON BERNHARD HÜBNER

Es könnte der Clubtanz in einem Urlaubshotel sein, was Freda von Heyden-Hendricks da macht. „Stellen Sie sich ein bisschen breitbeinig hin“, animiert sie die wartenden Besucher vor der MoMA-Ausstellung. „Und jetzt auf die Zehenspitzen. Und vom einen Bein auf das andere. Und hoch die Arme.“ Zwanzig der Wartenden machen mit. Mit den Armen kreisen, auf der Stelle stampfen. Drei Minuten Bewegung nach zwei Stunden Herumstehen. Nicht so viel, dass es anstrengend wäre, aber immerhin Bewegung, die Freda von Heyden-Hendricks ins Warten bringt. Die Physiotherapeutin ist die selbst ernannte Fitnesstrainerin der MoMA-Schlange.

„Am Anfang war es vor allem als Werbung gedacht“, sagt sie. Die 53-Jährige hat seit fünf Jahren ihre Praxis gegenüber der Neuen Nationalgalerie am Schöneberger Ufer. Als die Ausstellung des Museum of Modern Art eröffnete und sie von ihrem Fenster aus sah, wie sich die ersten Warteschlangen um die Nationalgalerie zwirbelten, kam ihr die Idee: ein Fitnessprogramm für die vielen, die in der Kälte stehen. Und so ein wenig Werbung machen für ihre Praxis. Weil nach der Gesundheitsreform das Geschäft ein wenig schleppend laufe. „Dann müssen wir eben hinausgehen“, sagte sich die Therapeutin.

Als Freda von Heyden-Hendricks wieder einmal losgeht, den Besuchern das Turnen zu lehren, reicht die Schlange schon um die halbe Galerie. Und davor hat man schon über eine Stunde auf seine Karte gewartet. Ein Mann in der Reihe liest „Im Krebsgang“ von Günter Grass. Er könnte noch damit fertig werden, bis er in die Ausstellung kommt.

Die Vorturnerin fängt an, Flugblätter zu verteilen. Sie hat einen zwei Finger dicken Stapel dabei. 1.800 Stück hat sie schon verteilt, schätzt sie. Auf der einen Seite ist ein bisschen Eigenwerbung gedruckt, auf der anderen die Beschreibung von fünf Übungen. „Ein bisschen Bewegung, dass Sie warm werden?“; „Sie auch noch?“ Die meisten sind froh, wenigstens einmal etwas zu lesen zu bekommen.

Dann greift Freda von Heyden-Hendricks selber ein. Ein bisschen nervös sucht sie nach dem geeigneten Punkt in der Schlange. Nicht zu weit hinten, wo die Besucher noch gestresst und genervt sind, weil nichts vorwärts geht. Nicht zu weit vorne, wo sie schon in den Eingang drängen. Die Therapeutin legt ihre schwarze Handtasche ab, stellt sich etwa fünf Meter neben die Wartenden, bis auf ihre rote Hose unscheinbar. „Guten Tag, meine Damen und Herren.“ Die Leute drehen sich zu ihr um, ohne dass sie allzu laut schreien müsste. „Wie geht es Ihnen? Tun die Füße schon weh?“

Die Frau mit der roten Hose und dem freundlichen Lächeln stellt sich auf ihre Zehen. „Den Bauch einziehen“; „die Schulter hochziehen und dann fallen lassen“; „die Hände vor dem Bauch und hinter dem Rücken zusammenklatschen“. Freda von Heyden-Hendricks macht vor, zehn bis zwanzig von den vierzig, die sie hören können, machen mit. Sie ist keine Animateurin, keine Profi-Entertainerin. Wenn sie die träge Masse zum Mitmachen bringen will, wirkt sie irgendwie natürlich. Und sie ist immer wieder aufgeregt, weil nie sicher ist, ob es klappt. Am Anfang habe sie sich gedacht: „wie schrecklich“, erinnert sie sich. „Aber jetzt geht es immer besser. Ich werde wohl mutiger im Alter.“

Gerade hat es die MoMA-Fitnesstrainerin am Ende der Schlange probiert. „Ich weiß nicht, ob ich sie heute gepackt kriege“, hadert sie. Die Leute wollten nicht so recht mitmachen. Auch nicht beim sonst so beliebten Ende ihrer Übung. Sie hat eine Frau aus der Reihe zu sich geholt, gesagt: „Waltraud, ich brauche Sie einmal kurz“, und dann Waltraud sanft auf den Rücken geklopft, um zu zeigen, dass es so jeder mit seinem Vordermann machen soll.

Sie geht weiter, ganz nach vorne, grummelt kurz, sie müsse überlegen, wie sie das jetzt anstellt, und noch einmal: „Guten Tag, meine Damen und Herren.“ Jetzt kriegt sie sie gepackt. Die Leute freuen sich, machen mit, zwei Rentnerinnen klopfen sich auf den Rücken und meinen: „Das machen wir jetzt jeden Tag.“ Und Freda von Heyden-Hendricks genießt es.

Die Werbung sei ihr gar nicht mehr das Wichtigste. „Es ist ein Gag, der mir viel Spaß macht“, findet sie. Die meisten MoMA-Besucher seien eh Touristen und die Chance entsprechend gering, dass sie einmal in ihre Praxis kommen. Bisher gebe es jedenfalls noch keine MoMA-mäßige Schlange vor ihrer Tür. „Meine Aktion hat sicher Langzeitwirkungen“, hofft sie. Wenn nicht, hat sie immerhin das Warten ein wenig sportlich gemacht.