Frust in Schüben

Globale Verspannungen und lokale Polarisierungen: Die in Bangladesch geborene Londoner Autorin Monica Ali erzählt in ihrem Debüt „Brick Lane“ die Geschichte einer bengalischen Migrantenfamilie

Ist es literarische Selbstversicherung angesichts dergeopolitischen Ereignisse?

VON HARALD FRICKE

Es sieht aus wie überall in London. Vierstöckige Wohnblöcke, Autowerkstätten und Spätkaufläden. Ansonsten ist die Gegend um den U-Bahnhof Bethnal Green ein entlegener Winkel im East End, der neuerdings durch Galerien aufgewertet wird. Am Hoxton Square hat sich mit White Cube immerhin das erfolgreichste Kunstunternehmen der Neunzigerjahre eingerichtet. Zu Eröffnungen stehen Kate Moss, Elton John und andere Celebrities herum, bis ein Taxi sie zurück in die vier, fünf Meilen entfernten Bars von Soho bringt. Umgekehrt dürfte die bengalische Community, die sich im Laufe der letzten 30 Jahre rund um die Bethnal Green Road angesiedelt hat, vom turnusmäßigen Aufmarsch der Popprominenz wenig mitbekommen. Das gehört zum Leben in der Großstadt, man hat sich nicht viel zu sagen, egal welche Rasse, Klasse oder welches Geschlecht.

Insofern ist es überraschend, das Monica Ali für ihren Debütroman „Brick Lane“ in die Granta-Liste der 20 besten englischsprachigen Autoren aufgenommen wurde und gute Chancen auf den Booker Prize hat. Denn die Brick Lane, in der Ali die Geschichte einer Familie aus Bangladesch stammender Immigranten spielen lässt, ist eine jener trostlosen Ansammlungen von East-End-Sozialwohnungen, die in Medien höchstens eine Nachricht wert sind, wenn ein paar Drogendealer hochgenommen werden oder es zu Protesten der vorrangig muslimischen Bevölkerung gegen die Politik der Blair-Regierung kommt. Das war seit dem Irakkrieg häufig der Fall, das hat vermutlich auch die erhöhte Aufmerksamkeit gebracht, dank der die 1968 in Bangladesch geborene Autorin als Nachfolgerin von Zadie Smith gehandelt wird.

In „Zähne zeigen“ hatte Smith schon vor vier Jahren Migranten im Norden Londons beschrieben, die sich in Zeiten wackliger Identitäten wie zum Trotz und selbst in absurden Situationen an ihrem kulturellen Erbe festzuklammern versuchten. Die Welt in Alis „Brick Lane“ ist nicht minder eng umschlossen: Mit 18 Jahren wird Nazneen aus der bengalischen Provinz heraus mit dem doppelt so alten Chanu in London zwangsverheiratet. Dort führt sie das Leben einer gehorsamen Muslimin, die ihren fettleibigen, in seiner orientalischen Aufgeregtheit ein wenig karikaturhaft geschilderten Mann bekocht oder ihm abends die Hühneraugen aus dem Fußbett schneidet. Vor allem aber muss sie schweigend die völlige Isolation am fremden Ort ertragen: Noch nach Jahren findet sie sich nicht im eigenen Viertel zurecht. Wie die Frauen in der Nachbarschaft ist Nazneen dazu verdammt, die ihr traditionell zugewiesene Rolle auch fern der Heimat ohne Klage fortzuführen.

Mit dieser Bereitschaft, nicht von dem religiösen und kulturellen Weg abzurücken, steht und fällt der Selbstwert der gesamten Community. Chanu gilt trotz Hochschuldiplom im weißen England kaum mehr als ein ungelernter Arbeiter. Deshalb träumt er von einer Rückkehr in die Hauptstadt Dhaka, wo er sich Anerkennung erhofft, die seinem Status entspricht. Auf keinen Fall möchte er wie Dr. Azad enden, dessen Ehefrau sich den britischen Sitten angepasst hat und seither sündige Miniröcke trägt und dauernd trinkt. Lediglich Razia, mit der Nazneen sich anfreundet, scheint eine Alternative zwischen den Kulturen gefunden zu haben. Statt im Sari läuft sie in Jogginghosen umher und arbeitet in einer Fabrik, nachdem ihr Mann zum Invaliden geworden ist. Doch selbst die Emanzipation aus finanzieller Not zieht Strafe nach sich: Razias Familie zerfällt, der Sohn wird zum Junkie.

Es sind diese nebenher eingestreuten Alltagsturbulenzen, aus denen sich in „Brick Lane“ die Unzufriedenheit herausschält, mit der Nazneen ihrem Leben begegnet. Der Frust kommt schubweise, die Verweigerung braucht Zeit und Leerlauf. Deshalb verzichtet Ali auch auf das schmückende Beiwerk zumal orientalisch eingefärbter Metaphern und erzählt betont schlicht, wie sich Risse in der Biografie ihrer Protagonistin bilden: Nach 150 Seiten stirbt Nazneens erstgeborenes Kind Raqib; nach 200 Seiten lehnt sich ihre Tochter Shahana gegen die überkommenen Regeln auf und will ein normaler Teenager sein; zur Hälfte des Buches wird sich Nazneen in den jungen Karim verlieben, der trotz seiner Koranfestigkeit das sexuelle Abenteuer ebenso sucht wie die immer noch strenggläubige Frau; und am Ende wird Chanu allein nach Bangladesch zurückkehren, weil seine Familie aus der Wurzellosigkeit in der Fremde gelernt hat, dass Herkunft zwar prägend ist, aber gewiss kein von Gott gewolltes Schicksal.

Dieser Rahmen hätte genügt, um mit „Brick Lane“ das Porträt einer Teilgesellschaft zu entwerfen, die sich unter der Patronage des Islam gegen Exklusion zur Wehr setzt. Doch bei Ali geraten die privaten Dramen zusätzlich noch durch das Weltgeschehen ins Schlingern: Unvermeidlich stürzen am 11. September 2001 Flugzeuge ins World Trade Center, sodass sich als Folge die Community radikalisieren muss, weil die Mehrheitsbevölkerung sie fortan zum Feind erklärt hat. Diese Flucht-nach-vorn-Verteidigung mag der allgemeinen Hysterie geschuldet sein, sie fügt sich ins Buch trotzdem bloß wie ein Baustein auf Augenhöhe zur Politberichterstattung. Zudem bleibt in einer solchen Konstellation unklar, für wen „Brick Lane“ geschrieben wurde. Ist es literarische Selbstversicherung angesichts der geopolitischen Ereignisse? Oder will Ali against all odds Neugier an einer bislang fremden Kultur wecken, die doch schon seit Jahrzehnten gleich um die Ecke existiert? Dass sich in lokalen Zusammenhängen die globalen Verspannungen nicht glätten, sondern polarisieren, gehört zu den Erfahrungen, die man heutzutage in einer Großstadt aushalten muss. Aus diesem Widerspruch zieht auch Ali den Eigensinn ihres Personals, ohne den „Brick Lane“ eine trist monokulturelle Insel im Londoner Commonwealth wäre. Bislang hat sich das mitunter fragwürdige Beharren auf Tradition und Glauben jedenfalls in einer Hinsicht ausgezahlt: Noch ist das East End nicht gentrifiziert.

Monica Ali: „Brick Lane“. Aus dem Englischen von Anette Gruber, Droemer, München 2004, 544 Seiten, 19,90 €