Höllensturz

Die eigene Geschichte und das eigene, schreckliche Leben wird man nie los: Gregor Hens’ Erzählung „Matta verlässt seine Kinder“ ist eine Parabel über Gleichgültigkeit, Sehnsucht und Verlorenheit

VON JÖRG MAGENAU

Zum festen Bestand der Mythen des Alltags gehört die Geschichte vom Ehemann, der nur mal eben Zigaretten holen ging und niemals wiederkehrte. Ihr Erfolg beruht auf dem verbreiteten Gefühl des Überdrusses und auf dem allgegenwärtigen Glauben, ein anderes, nicht gelebtes Leben sei allemal besser als die vielfältigen Arrangements und Sicherheiten, in denen man sich bewegt. Gregor Hens hat aus diesem Stoff eine Novelle gestrickt, allerdings mit einem entscheidenden Unterschied: Sein Held, Karsten Matta, ist ein Vertreter des modernen Krisengebiets-Jetsets. Als Agent einer Consulting-Firma prüft er im Auftrag kapitalkräftiger Kunden, ab wann der günstigste Zeitpunkt für Investitionen in Goma, Sarajevo, Ruanda oder Bagdad gekommen sein könnte. Reisen in die Kriegsgebiete der Erde sind seine Profession. Das Wegfahren und der Wechsel der Identität vom Familienvater zum Abenteurer ist für ihn nichts Besonderes. Wie kann so einer, der immer schon weg ist, sein Leben verlassen? Steht er nicht prinzipiell neben sich?

Dieser Karsten Matta hat längst jeden Glauben an die Menschheit verloren. Er ist durch die Schrecken der Welt so abgeklärt, dass ihn nichts mehr aus der Ruhe bringen kann. Aber dann verliert er doch gründlich die Beherrschung. Im Warteraum der pakistanischen Botschaft in Berlin rastet er nach stundenlangem sinnlosen Herumsitzen aus, verlässt schreiend das Gebäude. Das mitleidlose Ticken einer Uhr, deren Minutenzeiger immer wieder zuckend zurückfällt, als ob im Laufwerk eine Feder bricht, bringt ihn um den Verstand. Der Zeitstau, der da entsteht, entlädt sich explosiv. Sein beschissenes Krisengebietsexpertentum kommt ihm plötzlich so abstoßend vor, wie es immer schon war. Nie wieder will er sich beschießen lassen müssen wie in Sarajevo. Nie wieder auf läppische Visamarken warten müssen wie in der Botschaft.

Wo er schon einmal dabei ist, mit seinem Leben aufzuräumen und vielleicht so etwas wie eine Sinnfrage zu stellen, verlässt er auch seine Frau, mit der er sich in einem pragmatischen Nebeneinander eingerichtet hat, und seine beiden kleinen Söhne. Es ist wie bei einem Computerabsturz. Die Warnlämpchen blinken, nichts geht mehr, er setzt sich ins Auto und braust davon, Richtung Hamburg, wo er die schwedische Geliebte am Bahnhof abholen will. Eine originellere Antwort auf den Daseinsüberdruss findet er nicht. Fest entschlossen, nie wieder zurückzukehren, wirft er einen bunten Kinderkassettenrecorder, der auf dem Rücksitz liegt, aus dem Fenster. Nur kurz kommt ihm zum Bewusstsein, was für ein widerwärtiger Typ er ist. Es ist wie eine Ahnung, dass er dem Menschenekel, der ihn beherrscht, nicht entfliehen kann. Vor einer verkommenen Welt kann er nicht davonlaufen, wenn dieselbe Verkommenheit auch in ihm ist. Also können auch die Geliebte und die Liebe daran nichts ändern.

„Matta verlässt seine Kinder“ ist ein schlichter, aber vertrackter Titel, weil er schon das ganze Elend enthält. Am Anfang des Neubeginns steht der Verrat. Das ist die Bedingung, die die Mechanik des Geschehens in Gang setzt. Hens inszeniert von diesem Moment an eine heillose Odyssee, die seinen Helden von einer Prostituierten bis zu einer ländlichen Hochzeitsfeier und in eine Brandkatastrophe treibt. Er wollte in die Flitterwochen aufbrechen, doch er landet erneut in der Zerstörung. Am Ende ereignet sich ein Autounfall. In den Fahrzeugtrümmern findet die Polizei einen bunten Kinderkassettenrecorder.

Von hier aus ist die Novelle noch einmal neu zu lesen: Wenn Matta das Gerät gar nicht aus dem Fenster geworfen hat, ist vielleicht auch die Geliebte bloß eine Vision und die ganze Geschichte nichts als ein Albtraum. Gregor Hens zerstört damit auch die letzte Bodenhaftung für seinen Helden und seine Leser. Um Matta kümmern sich nun die Sanitäter. Die Leser bleiben hilflos zurück. Man kann dem Autor eventuell vorwerfen, seine Geschichte allzu kaltblütig inszeniert zu haben und sie aus den Zutaten Sex, Gewalt, Elend und Krieg, gewürzt mit einer Prise Sentimentalität, so schlau durchkalkuliert zu haben, dass sie auch das ordinäre Welthaltigkeitsverlangen der Literaturkritik zu befriedigen vermag.

Dennoch ist es schwer, sich der erbitterten Energie und der Präzision dieser Vernichtungsphantasie zu entziehen. Gregor Hens, der mit seinem Roman „Himmelssturz“ vor zwei Jahren ein gelungenes Debüt feierte, beschreibt Mattas Absturz ins Bodenlose so, dass die Bodenlosigkeit der Verhältnisse sichtbar wird, in denen er sich bewegt. Das macht diese schmale Erzählung zur brisanten Parabel über Gleichgültigkeit, Sehnsucht und Verlorenheit. Matta selbst sagt es so: „Dies hier ist nicht so eine Geschichte, wo man nach den Gründen und nach den Anfängen sucht. Hier geht es um uns, es geht darum, was jetzt ist und wie es weitergeht. Bis wir an ein Ende kommen, an einen Punkt, an dem die Forderungen, die sich hier aufbauen, erfüllt sind. Es ist eine Geschichte wie ein harter, kurzer Satz.“ Die Geschichte aber, der Matta zu entkommen sucht, holt ihn immer wieder ein. Deshalb ist sie dann doch etwas länger geworden.

Gregor Hens: „Matta verlässt seine Kinder“. S. Fischer Verlag, Frankfurt/Main 2004, 144 Seiten, 14,90 €