bettina gaus über Fernsehen
: Psssst, kauf dir ’ne Tüte Luft

Endlich ist Schluss mit der Faulenzerei. Wer die „Sesamstraße“ künftig sehen will, muss sonntags früh aufstehen

„Habt ihr eigentlich früher auch die ‚Sesamstraße‘ geguckt?“ Selbstverständlich, versichert die Freundin aus Friedrichshain. Besonders in der 8. und 9. Klasse seien sie alle ganz wild darauf gewesen. Wir anderen schauen uns ein bisschen befremdet an. Es ist ja nicht neu, dass mit dem Schulsystem seinerzeit in der DDR nicht alles zum Besten stand – aber sollte es wirklich derart schlimm gewesen sein? „Ach, tatsächlich“, sagt meine Tischnachbarin aus Würzburg schließlich vorsichtig. „Bei uns haben sich eher die Vorschulkinder für das Programm interessiert.“

Ihr Taktgefühl ist verschwendet. Das bedauernswerte Opfer der sozialistischen Erziehung ist so in Erinnerungen vertieft, dass ihm der eigene bildungspolitische Offenbarungseid gar nicht aufzufallen scheint. „Willst du ’ne Tüte Luft kaufen?“, kräht sie begeistert. „Was, ’ne Tüte Luft? – Psssst! Genaauuu.“ Begeistert schaut sie in die Runde. „Das lässt sich nicht mehr toppen. Das ist doch einfach surreal!“ Schon möglich. Aber inzwischen finden wir Westdeutschen, dass sie etwas taktvoller sein sollte. Mit Surrealismus hatten wir es nämlich in der 9. Klasse noch nicht so. Was natürlich nichts mit Mängeln unseres Schulsystems zu tun haben kann, sondern andere Ursachen haben muss. Es lohnt auch gar nicht, darüber weiter nachzudenken. Schließlich sind wir jetzt ein Volk, und alle Unterschiede gehören der Vergangenheit an. So wie demnächst die „Sesamstraße“.

Der Rundfunkrat des NDR hat nämlich beschlossen, vom 4. August an die Zuschauer um 18 Uhr mit Informationssendungen der Landesfunkhäuser zu versorgen. Diese Zeit gehörte bisher Ernie und Bert. Aber durch das neue Programmkonzept, so der Gremiumsvorsitzende Helmuth Frahm, „stärkt das NDR-Fernsehen sein regionales Profil und weitet sein Informationsangebot aus. Beides gehört klar zu seiner Kernaufgabe.“ Da hat der Mann gewiss Recht, und deshalb ist es auch kein Wunder, dass die ARD den Plan brav abgenickt hat. Schließlich gibt es eigentlich überhaupt kein Programm, das sich nicht irgendwie und zugleich ganz klar als Kernaufgabe des öffentlich-rechtlichen Fernsehens definieren lässt. Deshalb zahlen wir ja auch so gerne Gebühren.

Außerdem bedeutet das alles natürlich nicht, dass die „Sesamstraße“ abgeschafft wird. Morgens um halb acht und vielleicht auch irgendwann mittags ist sie weiterhin zu sehen, in verschiedenen dritten Programmen und im Kinderkanal. Zu familienfreundlichen Zeiten halt. Wann und wo genau, das steht allerdings noch nicht fest. Wenigstens können wir uns darauf verlassen, dass die Premiere jeder Folge weiterhin sonntags um 7.30 Uhr in der ARD zu sehen sein wird.

Vor dem Hintergrund, dass es demnächst keine Wiederholung im Vorabendprogramm mehr gibt, ist das eine begrüßenswerte disziplinarische Maßnahme. Endlich ist Schluss mit der Faulenzerei. Bekanntlich sollen sich gerade die Eltern von Kleinkindern gemeinsam mit ihrem Nachwuchs vor den Fernseher setzen, um hinterher das Gesehene besprechen zu können. Man sieht vor sich, wie demnächst am Sonntag der Wecker rasselt und die Mutter dem Vater zuruft: „Steh endlich auf! Diese Woche hast du ‚Sesamstraßen‘-Dienst!“

Mir kann das ja alles egal sein. Meine Tochter ist der Vorschule längst entwachsen, und ich gehöre zur letzten Generation, die mit der „Sesamstraße“ keine eigenen Kindheitserinnerungen mehr verbindet. Als die Sendung vor 30 Jahren eingeführt wurde, war ich ein Teenager. Meine Eltern und deren Freundeskreis redeten sich die Köpfe darüber heiß, ob Fernsehkonsum für Vorschulkinder den Untergang des Abendlandes näher rücken ließe. Ich hatte andere Sorgen.

Wenn ich davon erzähle, dann lachen alle am Tisch. Die einen, weil sie sich daran erinnern, dass es bei ihnen zu Hause genauso war. Die anderen, weil es ganz anders war. Und wieder andere einfach nur so. Weil die „Sesamstraße“ ein nettes, versöhnliches Thema ist, zu dem alle etwas zu sagen haben. Das haben verbindende kulturelle Chiffren so an sich. Die „Sesamstraße“ war bisher eine solche Chiffre. Genau wie die Augsburger Puppenkiste, die unter existenzbedrohenden Geldnöten leidet und deshalb in diesem Jahr kein neues Stück produzieren kann.

Macht ja nichts. Schließlich gibt es genügend andere gemeinsame kulturelle Erinnerungen, die Erwachsene von morgen miteinander teilen können. Zum Beispiel die an die „Power Rangers“. Und an eine Zeit, in der das Fernsehen seinen Bildungsauftrag ernst nahm.

Fragen zur Sesamstraße? kolumne@taz.de