„Xue Shen, Du bist eine Göttin!“

Dortmunds Chinesen feiern die vielen Glanzleistungen ihrer Landsleute bei der Eiskunstlauf-Weltmeisterschaft in der Westfalenhalle. Auch die deutschen Zuschauer wurden zu Erfolgsfans

Dortmunds Chinesen schepperten mit Kuhglocken, sie glucksten, jubelten, schwenkten Fahnen

AUS DORTMUNDCHRISTIANE MITATSELIS

Im Schatten des Westfalenstadions kämpfen Sportler aus allen fünf Kontinenten um Medaillen. 600 Journalisten sind akkreditiert, es wird Russisch und Englisch gesprochen, Chinesisch und Japanisch – Weltstars wie die fünfmalige Weltmeisterin Michelle Kwan aus den USA sind am Start. Allerdings landete die 23-Jährige bei ihrer Qualifikationskür am Mittwoch auf dem Hintern. Danach sprach sie davon, sie habe „Eis nicht gefühlt“ – und wirkte dabei wie eine Operndiva, die plötzlich, aus unerklärlichen Gründen, die Stimme verloren hat. Ob sie vielleicht krank sei, wurde Kwan gefragt. „Höchstens mental“, antwortete sie.

Dass es in der Westfalenhalle wirklich kuriose und spektakuläre Dinge zu sehen gibt, hat sich inzwischen herum gesprochen. Nach schleppendem Beginn war die Halle gestern Abend bei der Kür der Männer (bei Redaktionsschluss noch nicht beendet) mit 6.400 Besuchern erstmals ausverkauft. Was wohl ursächlich damit zusammen hing, dass Stefan Lindemann, der rotbäckige, nur 1,63 m große deutsche Meister aus Erfurt, vor der Kür auf dem dritten Platz lag. Eine wirkliche Sensation, der letzte Deutsche, der eine WM-Medaille, nämlich die silberne, gewann, war Norbert Schramm, 1983.

Am Mittwochabend dürften sämtliche China-Restaurants in Dortmund geschlossen gewesen sein. Alle Chinesen Dortmunds hatten sich in der Westfalenhalle versammelt, so schien es. Sie schwenkten ihre Fahnen, sie schepperten mit Kuhglocken, sie glucksten auf Chinesisch. Vermutlich sagten sie Sachen wie: „Xue Shen, du bist eine Göttin“ - oder „Hongbo Zhao, keiner ist so elegant wie du.“ Und sie hatten Recht. Das chinesische Paar legte eine so brillante Kür aufs Eis, dass es von den Preisrichtern gleich zwölfmal die Traumnote 6,0 gab. Die Sprünge der Chinesen, die auf Tschaikowskis „Nussknacker“ liefen, waren so perfekt, wirkten schon fast unecht.

Hongbo Zhao schleuderte seine Partnerin hoch und weit zu dreifachen Umdrehungen in die Luft. Die zierliche Xue Shen landete immer schön und ganz locker auf einem Schlittschuh. Und immer lächelnd. Als sei es die einfachste Übung der Welt. Trotz ihrer phänomenalen Leistung wurden die Chinesen nur Zweite. Im Kurzprogramm waren sie am Dienstag zweimal gestürzt – so gab es nur Silber. Gold gewannen die eleganten, aber weniger artistischen Russen Tatjana Totmianina und Maxim Marinin. Eigentlich sehr ungerecht, denn wahrscheinlich ist noch nie ein Paar eine bessere Kür gelaufen als Xue Shen und Hongbo Zhao.

Überhaupt wird in Dortmund, ohne dass es viele Dortmunder merken, Geschichte geschrieben. Bei der Weltmeisterschaft wird die vermutlich letzte 6,0 in der Geschichte des Eiskunstlaufs vergeben. Im Juni wird die Internationale Eislauf-Union (ISU) über die Einführung eines neuen, präziseren Wertungssystems entscheiden. Die Deutsche Eislauf-Union (DEU) unterstützt die Reform. „Man verspricht sich davon, dass ein Eindruck mathematisiert wird“, sagt DEU-Sprecher Uwe Prieser. Die Läufer sollen künftig keine Note mehr erhalten, sondern eine Punktzahl, in die alle Elemente, technische wie künstlerische gleichermaßen einfließen. Man verspricht sich davon mehr Transparenz und Gerechtigkeit. Das chinesische Paar, in diesem Punkt waren sich alle Experten einig, hätte nach dem neuen Wertungssystem gewonnen. Die Chinesen im Publikum feierten aber auch so den zweiten Platz.