Jugend ohne Luft

Nichts im Iran ist eindeutig. Das zeigt eine Filmreihe, die heute im Haus der Kulturen der Welt eröffnet wird – mit Parviz Shahbazis Spielfilm „Deep Breath“, der von Driftern in Teheran erzählt

VON DOROTHEA MARCUS

Ein Junge und ein Mädchen sitzen im Auto. „Zeig mir dein Haar“, sagt er. Sie lächelt ihn an. Kurz scheint es, als würde sie ihr Kopftuch ablegen – stattdessen legt sie ein anderes an. Für einen Moment fängt die Fantasie zu taumeln an, in ebenjenen Sekunden, in denen man sich fragt, ob man ihr Haar nicht doch sehen wird. Wenig später werden die beiden gemeinsam in den Abgrund stürzen, lachend, auf der Suche nach einer auf den Boden gefallenen Kassette. Ihre Liebe hätte nie eine Chance gehabt: Aida muss vom Mädchenwohnheim wieder nach Hause ziehen, Kamran wird von der Polizei verfolgt. Mit seinem Freund Mansur ist er durch Teheran gezogen, hat Handys, Autos und Benzin geklaut und in den Tag gelebt.

„Deep Breath“ von Parviz Shahbazi eröffnet heute Abend die Filmreihe im Haus der Kulturen der Welt. Der Film entwickelt eine düstere Wucht. Er zeigt, wie sich Jugendliche heute im Iran fühlen, zwischen Repression, Freiheitsdrang, Liebesverbot und Arbeitslosigkeit. Und er spielt subtil humorvoll mit den moralischen Grenzen des islamischen Gottesstaates: Jeder weiß, dass das Haar einer Frau nicht gezeigt werden darf, und doch geht Shahbazi so nahe an diese Grenze heran, dass sie im Kopf ständig überschritten wird.

Gleich zu Beginn sieht man einen leblosen Körper mit wallendem Haar im Wasser treiben – natürlich entpuppt er sich als Mann, Mansur, der sich später zu Tode hungern wird. Es scheint der einzige Raum zu sein, der ihm übrig bleibt. Freiwillig unter Wasser zu gehen, sich selbst auszuschließen von einer repressiven Gesellschaft, die keine Luft zum Atmen lässt – das ist vermutlich eine treffende Metapher für das Lebensgefühl iranischer Jugendlicher.

„Deep Breath“ war einer der größten Erfolge des letzten Jahres in allen iranischen Großstädten. Kaum zu glauben, dass der provokative Film, in dem die Erotik unverhüllbar aus den strahlenden Blicken springt, die Zensurbehörden passieren konnte. „Crimson Gold“ von Jafar Panahi, einer der jungen Regiehoffnungen Irans („Der Kreis“), wurde stattdessen verboten – wegen einer Zigarettenschachtel mit der Aufschrift „1357“, dem persisch gezählten Jahr der Revolution. „Die Marke ist mir zu stark“, sagt die Hauptfigur, ein Pizzabote, der einen Juwelierladen überfällt, nachdem er bei einem reichen Kunden war. Eine für Außenstehende kaum zu entziffernde Systemkritik, die an die Kodes der DDR erinnert. „Crimson Gold“ entfaltet sich in quälender Langsamkeit. In minutenlangen Einstellungen folgen wir Houssein in die Höhen von Teheran, dorthin, wo die Reichen wohnen, um den Abgasen zu entgehen, in das Haus eines reichen Kunden, wo er grobschlächtig und ungerührt in den vergoldeten Swimmingpool springt.

Dass der eine Film verboten wurde und der andere nicht, zeigt die Irrationalität der iranischen Zensur, in der Inhalte kaum, formale Regeln aber pedantisch beachtet werden. Die rund 30 Filme, die im Haus der Kulturen der Welt zu sehen sind, zeigen das breite Spektrum an Themen in einer zwischen Reform und Religion zerrissenen Gesellschaft. Wie ist denkbar, dass ein Film wie „Bemani“ von Dariush Mehrjui so radikal trist von der Ausweglosigkeit weiblicher Lebensläufe erzählt – die Protagonistinnen werden entweder erschlagen oder in die Selbstverbrennung getrieben – und man kurz danach „Joy of Madness“ sehen kann, einen Film, in dem die Regisseurin Samira Makhmalbaf selbstbestimmt, resolut und scharfzüngig durch Afghanistan reist, um Mullahs, verschüchterte Frauen und Bettler zu casten? Nichts ist eindeutig im Iran, am wenigsten die vermeintliche Unterdrückung der Frau – 63 Prozent der iranischen Studenten sind Frauen, weibliche Berufstätigkeit ist selbstverständlich.

Warum interessieren wir uns so für iranischen Film? Etwa 70 Kinofilme pro Jahr werden mittlerweile im Iran produziert, sieben davon, sagt Rose Issa, Kuratorin des Programms „Entfernte Nähe“, gelangen auf den internationalen Markt. Film ist im Iran das Exportgut, auf das man stolz ist, und paradoxerweise hat sich der iranische Kunstfilm vor allem nach der Revolution entwickelt. So breit die Themen gefächert sind, so deutlich kann man iranische Filme an wenigen Merkmalen erkennen: Meist sind sie an Außenschauplätzen gedreht, weil kein Regisseur, der auf sich hielte, so verlogen wäre, verschleierte Frauen in ihrer Privatsphäre zu zeigen. Unaufgeregt und still reflektieren sie iranischen Alltag, erheben kleine Geschichten ins Große. Kaum noch zu erkennen ist, wo Fiktion beginnt und Dokumentation aufhört: Iranische Filmemacher arbeiten mit Biografien von Laiendarstellern, mit echten Reaktionen und Situationen. Deshalb werden im Haus der Kulturen auch diverse „Making Of“ gezeigt, und etwa die Hälfte der Filme sind Dokumentationen.

Das Interesse am iranischen Film ist mehr als der wohlfeile Ethno-Blick von Westlern auf eine Gesellschaft, deren Regeln uns fremd sind. Ob es das Porträt eines filmverliebten Geistlichen ist, der ins Gefängnis kommt („Medium of Love“) oder das eines Massenmörders, der aus religiösen Gründen Prostituierte getötet hat („And along came a spider“), ob es sich um Tabus wie kinderlose Paare („To have or have not“) oder allein stehende Schauspielerinnen handelt („Alone in Teheran“): Die Filme beleuchten, ob dokumentarisch oder halbfiktiv, auf radikale Weise Existenzbedingungen im Iran. Sie stellen die eigene Gesellschaft mit großer Radikalität in Frage. Dabei kommt nie die Liebe fürs Detail abhanden. Das ist zwar manchmal quälend langsam, eine Behauptung des Poetischen im Kleinsten, die auch nervt. Aber immer wieder erheben sich eben diese Kleinigkeiten ins metaphorisch Bedeutsame, bilden stille, anrührende Geschichten, auf die man lange blicken muss.