Boing Boom Tschak

von TOBIAS RAPP

Nichts altert so schnell wie die Zukunft. Als sich gegen Ende des Kraftwerk-Konzerts am vergangenen Donnerstag im Berliner Tempodrom noch einmal der Vorhang öffnete und die berühmten Roboter mit den aufgeschraubten Köpfen der vier Musiker für „Die Roboter“ auf der Bühne stehen, wirken sie als hätte sie jemand für die Tour aus einem Museum geholt. Es sind nicht nur ihre ruckartigen Bewegungen, die sie so fehlerhaft und damit ungewollt menschlich aussehen lassen: Allein der Umstand, dass sie überhaupt am menschlichen Knochengerüst orientierte Greifarme haben, lässt sie fast rührend natürlich erscheinen. Sie kommen einem vor wie Arnold Schwarzenegger in den letzten beiden „Terminator“-Folgen. Die Roboter, die heute das Andere repräsentieren sind Flüssigmetallorganismen.

Das war einmal ganz anders. Als Kraftwerk in den frühen Achtzigern Puppen auf die Bühne stellten, um zu demonstrieren, dass sie als Musiker nicht mehr nötig seien, weil Maschinen diesen Job übernommen haben, wurde das wahlweise gefeiert oder mit Schrecken zur Kenntnis genommen.

2004 stellt sich das alles ganz anders dar: Es ist die erste Kraftwerk-Tournee seit dreizehn Jahren. Niemand ist gekommen, um sich den Weg in die Zukunft weisen zu lassen. Es ist die große Vergangenheit unserer Gegenwart, die hier gerufen hat, und ihre Visionäre möchte man in Augenschein nehmen. Nebeneinander aufgereiht stehen sie hinter ihren Monitoren, lächeln sich zu, wippen ab und zu mit dem Fuß und Oberkörper und kratzen sich manchmal an der Nase.

Viel ist über die Bedeutung von Kraftwerk geschrieben worden, tatsächlich dürfte ihr Einfluss auf alles, was musikalisch nach ihnen folgte nur mit dem der Beatles oder James Brown vergleichbar sein. Nicht nur HipHop und House, die beiden Genres, die die Popmusik im vergangenen Vierteljahrhundert revolutionierten, sind ohne die Maschinenmusik der vier Herren aus Düsseldorf undenkbar. Jeder, der heutzutage mit Maschinen Musik macht – und das ist jeder – bewegt sich innerhalb von Parametern, die Kraftwerk maßgeblich bestimmten.

Gegründet hatte sich Kraftwerk schon 1970, ihr eigentliches Konzept entwickelte die Band jedoch erst zwei Jahre später. Im kulturellen Rahmenprogramm der Olympischen Spielen in München, so erzählten es Ralf Hütter und Florian Schneider, die beiden Masterminds der Gruppe, Jahre später dem britischen Musikjournalisten David Toop, hätten sie balinesische Gamelan-Musik gehört und sich daraufhin entschlossen, ihre Musik ebenfalls auf ethnische Grundlagen zu stellen: konzeptuell deutsche Musik zu machen. Eine deutsche Stammesmusik, die mit den Stereotypen und Fremdzuschreibungen eines Landes spielt, das auf der ganzen Welt für die Qualität seiner Autos und die Effektivität seiner Arbeitsorganisation bekannt ist. Eine Musik aus und für einen industriellen Staat an der Schwelle zum postindustriellen Zeitalter, die Ernst macht mit dem Glücksversprechen des technischen Fortschritts und sich nicht länger an Vorstellungen von Expressivität und Künstlertum klammert, wie sie gerade in der Rockmusik jener Tage vollkommen selbstverständlich waren.

Das Album „Autobahn“ von 1974 war das erste Ergebnis dieser Idee. Wie eine gut geölte Maschine schnurrte der minimalistische und repetitive Rhythmus des Titelstücks, ganz akustische Entsprechung des visuellen Weiß-Schwarz-Weiß-Schwarz-Signals eines Autobahn-Mittelstreifens bei 150 Stundenkilometern. Dass das Stück mit seinem Refrain „Fahren, fahren, fahren auf der Autobahn“ eine heimliche Hommage an „Fun, Fun, Fun“ von den Beach Boys war, jenen klassischen Song über die Teenagerfreuden auf ganz anderen Highways, zeigte nur, wie raffiniert Kraftwerk ihre Vorstellung Pop auf deutsche Verhältnisse zu übertragen in der Lage waren.

Doch hier ging es nicht darum, durch die Gegend zu heizen bis Daddy einem das Auto wieder wegnimmt, hier ging es um die reine Bewegung. Um großzügig geschwungene Straßen, die sich durch Täler und über Brücken ziehen, um jenes Gefühl, das sich einstellt, wenn die Windschutzscheibe zur Leinwand im Cinemascope-Format wird und die Augen zur rasenden Kamera. Es ging um die Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine, das andere große Thema, das sie von nun an ausloten sollten.

Der rasende Erfolg von „Autobahn“ lag aber, vor allem in den USA, an jenem Bild des deutschen Techno-Übermenschen, der den vier Musiker von Kraftwerk vorauseilte und den sie in Interviews gern bestätigten. Wie Wernher-von-Braun-Klone kamen sie etwa dem in Angst-Lust schaudernden Punkrock-Journalisten Lester Bangs vor, als er sie 1975 interviewte. Für ihn waren Kraftwerk die Reinkarnation jenes eisernen deutschen Willens zur Bewegung und Geschwindigkeit, der die deutsche Pharmaindustrie schon zur Erfindung der Bomberpilotendroge Speed gebracht hatte, die in den Händen von Amerikanern immer in die Selbstzerstörung führe, in den Händen von Deutschen dagegen zu höherer Effizienz. „Irgendwie beruhigend zu wissen, dass sie offensichtlich schlafen“, witzelt Bangs, als Florian Schneider sich entschuldigt und den Raum verlässt, um sich auszuruhen.

Doch Bangs Kraftwerk-Bild beruhte auf einem Missverständnis, kann man dreißig Jahre später feststellen. Es sind Bilder aus dem Wirtschaftswunder-Deutschland, die Kraftwerk auf der riesigen Leinwand hinter ihren Pulten zeigen. Es ist die Autobahn der Fünfzigerjahre, jener Weg heraus aus der Provinz, den das Mobilitätsversprechen jener Jahre allen zu eröffnen schien. Einer Zeit als Paris oder die Côte d’Azur noch die große weite Welt und das Versprechen auf ein glamouröses Leben war. Das hat schon fast seine enttäuschenden Momente, wenn man feststellen muss, dass die Techno-Pop-Übermenschen am Ende eben auch nur vier Jungs sind, die versuchen das Glücksversprechen ihrer Kindheit und Jugend nachzubauen. Aber ob „Trans-Europa-Express“ oder „Neonlicht“: Immer wieder sind es Bilder der Fünfziger, die beschworen werden, um den Kraftwerk-Futurismus zu unterstreichen. Sogar „Das Modell“ wird nicht etwa mit New-Wave-Schönheiten illustriert, es sind Models aus den Fünfzigern, die ihre aufwendigen Roben vorführen. Manchmal kommen sie einem vor wie eine bizarre Fifties-Revival-Band.

In einem sollte Bangs aber Recht behalten: Dieser Musik gehörte die Zukunft, auch wenn sie heute deutlich gealtert daherkommt. Aber Kraftwerk kennen sie eben schon, als sie noch ganz klein war. Zwar hätte man sich schon damals an drei Fingern abzählen können, dass es die schiere Wahrheit war, als sie 1981 sangen: „Automat und Telespiel / leiten heut die Zukunft ein / Computer für den Heimbetrieb / Computer für das Eigenheim“ („Computerwelt“). Es gab allerdings niemanden, der dieses Glücksversprechen einer sich zunehmend in den Alltag hinein verlagernden Mensch-Maschinen-Verkoppelung ähnlich grandios vertonte wie Kraftwerk. Es ist ein unterkühlter Funk, die einem in ihrer gebirgsbachklaren Reinheit immer wieder Schauer der Freude über den Rücken jagt. In seiner dandyhaften Technikaffirmation hat er auch 25 Jahre später noch eine futuristische Frische hat, dass man es kaum glauben mag, dass diese Musik tatsächlich schon so alt ist.

Das Neue in der Popmusik entsteht immer aus der Radikalisierung von einigen Momenten des Alten. Diesem ehernen Gesetz des musikalischen Fortschritts mussten sich schließlich auch die größten Visionäre des Pop beugen. Ein Produzent wie Afrika Baambaataa übernahm 1982 schlicht ein paar Takte aus „Nummern“, um mit „Planet Rock“ einen der wegweisenden ersten HipHop-Tracks zu kreieren und trieb damit das Prinzip der Repetition auf die Spitze. Während es in erster Linie die Idee einer Umarmung der Maschinen war, die die ersten Techno-Pioniere faszinierte, das Konzept, sich der technischen Entfremdung in die Arme zu werfen.

Um Kraftwerk selbst wurde es dagegen still. 1991 meldeten sie sich noch einmal mit einer Platte zurück, auf der sie all ihre Hits neu digital eingespielt vorstellten, dann war Funkstille. Sie bekamen keinen produktiven Umgang mit den Radikalisierungsschüben ihrer Epigonen auf den Schirm.

Erst im vergangenen Sommer meldeten sie sich mit ihrem grandiosen Album „Tour de France Soundtracks“ zurück. Und betrachtete man im Tempodrom die Inszenierung von Stücken wie „Elektro Kardiogramm“, „Vitamin“ oder „Tour de France“ mit ihren endlos fließenden Bildern von rieselnden Pillen, flackernden Herzfrequenzkurven und Fahrradfahrergruppen, die in elegischen Bewegungen über Straßen sausen, die sich in eleganten Kurven an Berghänge anschmiegen, so hatte man Kraftwerk noch einmal in ihrer vollen konzeptuellen Größe vor sich: Biomacht und Ritzelsurren, zur reinen Form geronnene Bewegung, Mensch und Fahrmaschine.