berliner szenen Callbikes (1)

Die Verführung

Seit wann ich weiß, dass der Winter endgültig vorbei ist? Seit die Bundesbahn ihre silbern glänzenden Leihfahrräder wieder in die Berliner Straßen entlassen hat. Daraufhin forderte ich kürzlich einen Berliner Freund auf, sein Winterexil in der Toskana zu verlassen. Am Telefon erkundigte er sich sicherheitshalber, ob denn in Kreuzberg bereits der Flieder blühe. Was für eine anachronistische Frage! In Berlin jedenfalls haben dank der Deutschen Bahn Sterne und Blühkram als Jahreszeitorakel ausgedient, der moderne Mensch orientiert sich an der Fluktuation seiner Transportmittel!

Sie sind also wieder da: Seit es nicht mehr wintert, bevölkern die DB-Fahrräder von neuem unsere Straßen. Von meinem Fenster in der Oranienstraße aus ist es unübersehbar. Anfangs noch belächelt – hämisch stellte man fest, dass wieder ein Sattel fehlte, wieder ein Reifen plattgestochen war –, avancieren sie immer mehr zum Kultobjekt. Auch ich bin kurz davor, ihrem Reiz zu erliegen. Zwar weiß ich als Besitzer eines Eigenrads, dass nur die tägliche Sorge um den Zustand von Reifen, Bremsen und Licht die persönliche Bindung zum Rad ermöglicht – eine Sorge, die aus mir mehr als nur einen schnöden Nutzer macht.

Aber das grüne Signalzeichen an der Black Box in Kniehöhe funkelt mich so unwiderstehlich an: Es verspricht mir den Zugang zu einer elektronisch vermittelten Welt der ständigen Verfügbarkeit, eine Art VIP-Karte der High-Tech-Gesellschaft mit der Glücksverheißung ständiger Standortpeilung und automatischer Konto-Einzugsermächtigung übers Handy. Und nicht nur das: Als ich noch immer zögere, da raunt es von dem Zweirad her: Steig auf, dann fährst du dem Winter für immer davon.

PATRICK BATARILO