Halbseitige Lähmung

Auch zehn Jahre nach dem Anschluss Berlins an das deutsche ICE-Netz führen die schnellen Züge vor allem in Richtung Westen. Nach Osten hin dauern manche Reisen nicht Stunden, sondern Tage

von UWE RADA

Wenn es um den Lehrter Bahnhof geht, kann man sich vor Superlativen gar nicht retten. Vom größten ICE-Kreuzungsbahnhof Deutschlands ist da die Rede und von einem Drehkreuz wahrhaft europäischen Ausmaßes. Doch auch zehn Jahre nach dem Berliner Anschluss ans ICE-Netz am 22. Mai 1993 bleibt eine Frage offen. Wohin soll sich das Drehkreuz eigentlich drehen?

Ein Blick auf das ICE-Streckennetz der Bahn AG zeigt: Hochgeschwindigkeitsverbindungen gibt es nach wie vor nur in den Westen der Republik. Dafür wurde die Strecke Berlin–Wolfsburg–Hannover auf eine Geschwindigkeit von 250 km/h ausgebaut und vor fünf Jahren in Betrieb genommen. Im Ausbau begriffen sind darüber hinaus die Strecken nach Leipzig und Hamburg, die derzeit mit 160 km/h befahren werden (siehe Text unten). Doch in Richtung Warschau rollen die Züge noch immer mit 120 km/h. Erst auf der polnischen Seite geht es mit 160 km/h wieder etwas schneller.

Zehn Jahre ICE in Berlin sind deshalb nicht nur ein Grund zur Freude. Die Fahrtzeiten in die mittel- und osteuropäischen Metropolen sprechen jedenfalls Bände. Nach Warschau braucht man knapp sechs Stunden, nach Krakau fast zehn, bis Prag sind es fünf, nach Budapest dreizehn und nach Riga dreißig Stunden. In einem Jahr sind auch das Fahrten in Städte der Europäischen Union.

Dass sich am Drehkreuz Berlin noch immer zwei Geschwindigkeiten stoppen lassen – die Hochgeschwindigkeit in Richtung Westen und die D-Zug-Geschwindigkeit in Richtung Osten –, ist die Schuld von Bahn und Politik gleichermaßen. Anfang der 90er-Jahre, sagt der heutige Osteuropabeauftragte des Senats, Wolfram O. Martinsen, hätten genügend Mittel bereitgestanden, die Schiene auch in Richtung Osten auszubauen. Warschau hätte damit schon heute in viereinhalb Stunden erreicht werden können. „Doch dieser Blick ging den Verantwortlichen zu weit“, mutmaßt Martinsen. Und ärgert sich. Denn heute liegen die Milliarden nicht mehr auf der Straße.

Schaut man sich den Stand der Planungen an, kommt in der Tat keine Feierstimmung auf. Der Ausbau der „Stettiner Bahn“ lässt ebenso auf sich warten wie der der „Ostbahn“ über Küstrin-Kietz nach Bydgoszcz/Bromberg und Gdańsk/Danzig. Noch trauriger ist es, wenn man mit dem „Intercity“ 241 nach Wrocław/Breslau oder Kraków/Krakau fahren möchte. Nachdem der Zug nicht mehr über Frankfurt (Oder), sondern eingleisig über Forst fährt, dauert die Fahrt eine geschlagene Stunde länger. Selbst Zielona Góra/Grünberg, immerhin eine der beiden Hauptstädte der Woiwodschaft Lubuskie, ist von Berlin aus nicht mehr direkt erreichbar. Ausgebaut werden derzeit einzig die „Frankfurter Bahn“ nach Frankfurt (Oder) sowie die „Dresdener Bahn“ in in Richtung Prag auf 160 km/h.

Wie ernst der rot-rote Senat diese halbseitige Lähmung des Berliner Bahnnetzes nimmt, zeigte unlängst der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit. Der forderte auf einer Konferenz der ostdeutschen Ministerpräsidenten eine Transrapidstrecke von Berlin über Warschau nach Moskau. „Albern“ findet das der grüne Verkehrsexperte Michael Cramer. „Wowereit sollte sich lieber dafür einsetzen, den Ausbau der Bahnverbindungen voranzutreiben.“

Wenn es um die Visionen für die nächsten zehn Jahre geht, bäckt Cramer weitaus kleinere Brötchen als der Regierende Bürgermeister. „Mein Wunsch wäre eine ICE-Verbindung nach Warschau und Budapest mit 200 Stundenkilometern“, sagt der grüne Politiker. „Darüber hinaus sollte es über Danzig eine Verbindung nach Riga und weiter nach Helsinki geben.“ Damit, so Cramer, wären dann auch die mittel- und osteuropäischen Länder an das Berliner Hochgeschwindigkeitsnetz angeschlossen, und die Drehscheibe Lehrter Bahnhof würde ihrem Namen wirklich Ehre machen. Außerdem müsste auch der grenzüberschreitende Nahverkehr erheblich ausgebaut werden.

Ob der ICE in zehn Jahren tatsächlich auch in Richtung Osten unterwegs ist, steht aber in den Sternen. Ein solcher Betrieb, heißt es bei der Bahn, lohne sich nur bei Strecken, die eine höhere Geschwindigkeit erlauben als 160 km/h. Ein solcher Ausbau ist aber derzeit nicht geplant, weder auf deutscher noch auf polnischer oder tschechischer Seite.