Nationale Einheit für ein zerrissenes Land

Am Montag stimmt Ruanda über eine neue Verfassung ab, die der „Ideologie des Völkermords“ den Kampf ansagt. Völkermordhäftlinge kommen frei, Wahlen sind in Vorbereitung. Aber eine politische Öffnung scheint nicht in Sicht

GISHAMVU/BERLIN taz ■ „Ich wars nicht“, sagte Marie und grinst unschuldig. Acht Jahre saß die 43-jährige ruandische Krankenpflegerin im Gefängnis, der Beteiligung am Völkermord von 1994 verdächtigt. „Man hat mich beschuldigt, sieben Kollegen und vier Kinder umgebracht zu haben. Aber ich habe nur gesehen, wie sie getötet wurden. Das wurde als Mitschuld ausgelegt.“

Eigentlich sollten nur geständige Täter freikommen, als Ruanda Ende Januar etwa 40.000 seiner über 100.000 Völkermordhäftlinge entließ. Aber Marie kam trotzdem frei, denn ihre Aussage änderte sie erst hinterher. Sie kam mit 1.250 anderen in das Umerziehungslager Gishamvu – eines von Ruandas vielen „Solidaritätslagern“, in denen Wehrpflichtige, repatriierte ruandische Flüchtlinge aus dem Kongo und nun eben auch Völkermordhäftlinge politisch geschult werden. Dort lernen sie das Denken eines „neuen Ruanda“, in dem es keine Hutu und Tutsi mehr geben soll. Und am kommenden Montag wird Ruandas Volk beweisen, dass es seine Lektion gelernt hat: Es gibt eine Volksabstimmung über eine neue Verfassung, die der „Ideologie des Genozids in all ihren Formen“ den Kampf ansagt.

Das Lager von Gishamvu ist eine Ansammlung von Baracken in einer bergigen Gegend voller Nadelwälder. Einen Kilometer weiter liegt das katholische Priesterseminar von Nyakibanda. Dort fanden während des Genozids an 800.000 Menschen im Frühjahr 1994 einige der blutigsten Massaker statt, als Hutu-Milizen die dorthin geflohenen Tutsi umbrachten. Neun Jahre später ist die Gegend um Gishamvu voller Massengräber. Und im Lager standen 1.250 mutmaßliche Mörder in einem großen Freiluft-Unterrichtsraum unter Plastikplanen und sangen. „Wir Ruander wollen Frieden“, sangen sie. „Wir müssen einander vergeben. Wenn wir einander vergeben, können wir zusammenleben. Wenn wir zusammenleben, ist das Land geeint.“

Die neue Verfassung, die Ruandas Einheit festschreibt, ist das Ergebnis eines langen Prozesses. Eine gültige Verfassung hatte Ruanda seit dem Völkermord nicht mehr. So wurde im Jahr 2000 eine Verfassungskommission gebildet. Der fertige Entwurf wurde am 23. April vom Parlament verabschiedet. Neben der Festschreibung einer Mehrparteiendemokratie ist der Grundgedanke: Es darf keine Diktatur der Mehrheit über die Minderheit geben, denn dies ermöglichte 1994 den Genozid. Aber von Hutu und Tutsi ist keine Rede. Es gibt institutionelle Vorkehrungen gegen die Alleinherrschaft einer Partei, unabhängig von Wahlergebnissen: Keine Partei darf mehr als 50 Prozent der Kabinettssitze haben; Präsident und Premierminister müssen verschiedenen Parteien angehören.

Das bedeutet aber auch: Es gibt keine Opposition. Alle, ob die regierende RPF oder die anderen Parteien unter Führung von Hutu-Politikern, sind zur Mitarbeit gezwungen. Es ist ein System der permanenten Mobilisierung, in der kein Bevölkerungsteil sich den Anstrengungen zur Entwicklung der Nation entziehen kann.

„Wir bringen den Leuten bei, eine Persönlichkeit zu haben“, erklärte in Gishamvu ein Lageraufseher. Die Verfassung ist da sehr detailliert: „Jede Person ist verpflichtet, andere nicht zu diskriminieren und Beziehungen mit anderen Menschen zum Ziel des Schutzes, der Förderung und der Stärkung des gegenseitigen Respekts, der Solidarität und der Toleranz einzugehen“, sowie „durch ihre Arbeit zum Wohlstand des Landes beizutragen, den Frieden, die Demokratie und die soziale Gerechtigkeit zu schützen und an der Landesverteidigung teilzunehmen.“

Die Umerziehungskurse für freigelassene Völkermordhäftlinge endeten Anfang Mai. Dann wurden die ehemaligen Häftlinge in ihre Heimatgemeinden geschickt, wo sie nun für Dorfgerichte zur Verfügung stehen – die so genannten Gacaca-Prozesse. Dort urteilen Laienrichter in jeder Gemeinde über die örtlichen Völkermordtäter minder schweren Grades. Die massenhafte Ankunft reuiger Häftlinge in den Dörfern kurz vor dem Verfassungsreferendum war ein weiteres Signal, dass es vorangeht mit dem „neuen Ruanda“.

Dass die Verfassung angenommen wird, steht außer Frage. Danach aber könnte das politische Leben spannend werden. In einem halben Jahr sollen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen stattfinden – die ersten seit dem Völkermord.

Das parteipolitische Leben in Ruanda wird jedoch weiterhin streng kontrolliert. Ein „Forum der Parteien“ überwacht die Aktivitäten der Parteien und kann deren Verbot empfehlen. Das soll verhindern, dass sich Vertreter der Ideologie des Völkermords parteipolitisch organisieren. Aber Menschenrechtler kritisieren, dass es auch dazu dient, Gegner der RPF kleinzuhalten.

Vor einer Woche verkündete die Regierung ihre Absicht, Ruandas wichtigste Partei neben der RPF verbieten zu lassen: Die Hutu-dominierte MDR (Demokratische Republikanische Bewegung), die Ruanda nach der Unabhängigkeit 1962 regierte und heute unter anderem den Premierminister stellt: Bernard Makuza, bis 1999 Botschafter in Deutschland. Die Regierung wirft der MDR „Sektierertum und Divisionismus“ vor. Wenn das MDR-Verbot durchkommt, ist es zweifelhaft, ob Präsident Paul Kagame bei den Wahlen überhaupt mit ernst zu nehmenden Gegenkandidaten rechnen muss. DOMINIC JOHNSON