Umsonst geopfert

Hannover 96 erkämpft gegen Borussia Dortmund ein 1:1. Doch im Abstiegskampf ist selbst das zu wenig

HANNOVER taz ■ Geschichten wie diese erfährt ein Sportreporter nur, wenn er vor einem Match knallhart recherchiert. Oder per Zufall. Oder aus der Nähe. Es ist die Geschichte einer Opferhandlung, wie sie normalerweise außerhalb des Scheinwerferlichts und jenseits der Schlagzeilen völlig unbeachtet bleibt – in einer eiskalten, von Egoismus und Rücksichtslosigkeit beherrschten Welt. Es ist die wahre Geschichte eines 96er-Fans, der aus seiner ganz persönlichen Saisonbilanz die für ihn einzig denkbare Konsequenz zog: dem neuntletzten Endspiel seiner Mannschaft gegen den Abstieg, dem gegen Borussia Dortmund, fernzubleiben. In seiner Anwesenheit hatte 96 zu Hause fünfmal unentschieden gespielt und viermal verloren. Ohne ihn hatte es die drei Heimsiege gegeben.

Das unentschiedene Ende der Geschichte kommentierten die Trainer der beteiligten Mannschaften in geradezu harmonischer Übereinstimmung: Das 1:1 gehe „in Ordnung“, meinte Matthias Sammer, es sei ein Punkt, der bei einem Sieg am kommenden Wochenende gegen den VfL Bochum „was wert ist. Sonst nicht.“ Auch Ewald Lienen sprach von einem „gerechten Resultat“.

In seinem dritten Spiel als Trainer der Hannoveraner hatte Lienen anfangs mit Brdaric nur eine Spitze gebracht und Christiansen, Torschützenkönig der vergangenen Saison, auf der Bank gelassen. Vielleicht auch eingedenk des wuchtigen 2:6 im Hinspiel hatte Lienen vorher die Tageslosung ausgegeben, die „Dortmunder Angriffsmaschinerie zum Stehen kriegen“ zu wollen. Die tuckerte gemächlich, aber konstant und meist über rechts mit Evanilson und Gambino. Jensen und Dede, das derzeit hoch gehandelte Duo auf der linken Seite, hielt sich dagegen zurück, und auch von Koller war vorne wenig zu sehen. Das lag insbesondere am 19-jährigen Mertesacker, der mit unerschütterlich anmutender Ruhe seit vier Spieltagen entscheidend zur ersehnten Stabilität in der hannoverschen Innenverteidigung beiträgt. Ansonsten gab es bei 96 viele Fehler – außer beim Aufstellen der Abseitsfalle: Elf entsprechende Pfiffe von Schiedsrichter Stark ertönten allein in der ersten Halbzeit.

Borussias Führungstreffer nach einer Viertelstunde nahm dann den Weg durch die Mitte: Der Schuss des starken Frings aus etwa 25 Metern, der Torhüter Ziegler zu überraschen schien, sah live haltbar aus, aber die gespeicherten Fernsehbild-Perspektiven ließen an dieser Einschätzung Zweifel aufkommen. Die hegte nun auch Lienen ob seines Konzepts – und wechselte Christiansen für Kleber ein.

Die Zusammenfassung der ersten Hälfte gelang einem Kollegen aus Westdeutschland, der die Bemerkung des Stadionsprechers nach der Pause („Beide Mannschaften spielen unverändert weiter“) spontan so kommentierte: „Hoffentlich nicht!“

Dortmund zog sich nun zurück, während Hannover tatsächlich das Tempo und die Zielstrebigkeit um einige hundert Prozent erhöhte. Beide Trainer unterfütterten ihre veränderten Absichten mit Auswechslungen: Madouni kam für Gambino und übernahm Reuters Position in der Innenverteidigung, Lienen verstärkte die Offensive durch Krupnikovic und Stendel. Da sich bei 96 aber die Strategie wenig änderte, die Flugbälle in den Strafraum für Dortmunds Torwart Warmuz überhaupt kein Problem darstellten, konnte man von zwingenden Chancen nur im Einzelfall sprechen.

Sollte die Opferbereitschaft jenes 96-Fans, der bestimmt irgendwo am Radio oder per Videotext das Spiel verfolgte, vom lokalen Fußballgott so sträflich ignoriert werden? Kurz bevor die Hoffnung stirbt, so will es die Tradition, flackert sie vor allem bei Standards auf; und wirklich kam es zur Premiumversion des ruhenden Balls: Sieben Minuten vor Spielschluss fing Madouni im Fünfer eine Flanke von Mathis mit der Hand ab. Christiansen („Als ich reingekommen bin, hab ich mich wohl gefühlt“) verwandelte den Strafstoß ganz selbstverständlich, als ob psychologisch gesehen für Hannover 96 nicht mehr als ein Punkt davon abhinge. Andererseits: Um den Abstieg zu vermeiden, müssen ab und zu auch mal drei Punkte eingefahren werden.

DIETRICH ZUR NEDDEN