Post aus Gestern

Claudia Hermes

Als ich in der Buchhandlung in der Oranienstraße durch die schönen, aber zu teuren Bücher von Jochen Schmidt und Rainald Goetz blätterte, fuhr draußen eine Hochzeitskarawane vorbei. Die Bücher legte ich schnell beiseite, aber die Hochzeit war bereits verschwunden. Eine Frau finden, aufs Land ziehen, ein ruhiges Leben führen, dachte ich.

Ich ging nach Hause und ließ mir eine Liebesgeschichte zwischen einem Schriftsteller und einem Punkmädchen einfallen. Eine solche Konstellation scheint unmöglich zu sein, es sei denn, das Punkmädchen ist stumm, der Schriftsteller selber ein Punk, oder das Mädchen versucht zu schreiben.

Dann klingelte das Telefon. Meine Mutter erzählte mir von Claudia Hermes. Claudia Hermes war meine erste, verhuschte Liebe zu Grundschulzeiten. Wir gingen in dieselbe Klasse, wohnten in derselben Siedlung auf dem Land. Wir haben nie miteinander geredet, bis zu dem Tag, als wir von der Schule nach Hause gingen. Fast hätten wir Händchen gehalten.

Am nächsten Tag war es so wie immer: Wir schwiegen uns an, wichen uns auf dem Heimweg aus. Wir sind nie wieder miteinander gegangen. Ich weiß nicht genau, warum nicht. Claudia Hermes sagte nichts.

Ein traumatisches Erlebnis, an das ich ohne meine Mutter nie wieder gedacht hätte. Schuld war ihr Fuß. Mutter lag mit einem Fußbruch im Krankenhaus, in dem Claudia als Verwaltungsangestellte arbeitet. Dort, wo ich herkomme, auf dem Land, am Rhein. Claudia Hermes ist kinderlos und geschieden, erzählte Mutter am Telefon, sie hat nach mir gefragt, als sie ihr bei den Versicherungspapieren helfen wollte. Claudias Vater war übrigens, kein Witz, Postbote. RENÉ HAMANN