Erstaunlich produktiv

Der öffentliche Dienst stößt, unfreiwillig, eine Grundsatzdebatte an: Weil Angestellte länger arbeiten sollen, diskutiert Deutschland über Mehrarbeit

AUS BERLIN COSIMA SCHMITT

Sollten Deutschlands Beschäftigte mehr arbeiten? Saniert das die kriselnde Wirtschaft, sichert es Jobs, Wachstum und Wohlstand? Ja, finden Unionspolitiker und Wirtschaftsvertreter. Der Streit um längere Arbeitszeiten im öffentlichen Dienst hat nun eine Grundsatzdebatte entfacht.

„Ein bis zwei Stunden Mehrarbeit pro Woche sind der verträglichste Weg, um die Wettbewerbsfähigkeit in Deutschland zu erhöhen“, sagt etwa CDU-Generalsekretär Laurenz Meyer. Auch Niedersachsens Ministerpräsident Christian Wulff (CDU) fordert „ein Umdenken in den Köpfen“. Martin Wansleben, Hauptgeschäftsführer der Industrie- und Handelskammer, hofft gar auf „zusätzliche Chancen auf den Weltmärkten“. Und Horst Köhler, der Unions- und FPD-Kandidat fürs Bundespräsidentenamt, ist zuversichtlich, dass die Masse der Deutschen unbezahlte Mehrarbeit akzeptieren würde. Die meisten wüssten durchaus, „wie notwendig es ist, manchmal mehr zu arbeiten, wenn die Umstände es verlangen“, sagte Köhler.

Der Hintergrund der Diskussion: Die Bundestarifgemeinschaft der Länder hat am Freitag beschlossen, den Arbeitszeit-Tarifvertrag für Angestellte und Arbeiter in Westdeutschland zu kündigen. Damit wird eine längere Arbeitszeit in den alten Bundesländern möglich. Derzeit gilt im Westen noch die 38,5 Stunden-Woche, im Osten aber gelten 40 Stunden Arbeitszeit pro Woche.

Das dürfte sich noch in diesem Jahr ändern, meint jetzt Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU) in der Bild am Sonntag. Wer sich neu im öffentlichen Dienst bewirbt oder befördert werden möchte, müsse künftig bis zu 42 Stunden Arbeit akzeptieren, so Stoiber.

Der DGB hingegen hält nichts von Mehrarbeit – weder in den Amtsstuben noch im privaten Betrieb. Sein Einwand: Wenn der Einzelne mehr arbeitet, brauchen Firmen und Amtsstuben insgesamt weniger Mitarbeiter. Ein, zwei Stunden Mehrarbeit für jeden würde „hunderttausende Arbeitsplätze kosten“, warnt DGB-Sprecher Hilmar Höhn. Auch die Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di bekräftigte, sie werden den zusätzlichen Arbeitsstunden nicht zustimmen.

Rainer Wend (SPD) hingegen, Vorsitzender des Bundestagsausschusses für Wirtschaft und Arbeit, findet die Idee bedenkenswert. Jedoch warnt er vor allzu starren Vorgaben. Die Betriebe selbst müssten entscheiden, ob sie „je nach Auftragslage mit der Arbeitszeit nach oben oder unten“ gehen möchten. Auch FDP-Chef Guido Westerwelle plädiert für das Votum im Einzelfall. Wenn drei Viertel der Beschäftigen in geheimer Wahl zustimmten, könnte ein Betrieb den Arbeitstag verlängern.

Ob indes die simple Rechnung – wer mehr arbeitet, ist produktiver – überhaupt aufgeht, ist in der Wissenschaft umstritten. So fand das Düsseldorfer Institut für Arbeit und Technik in einer Studie heraus: Mehr Stunden im Büro beleben nicht zwangsläufig die Wirtschaft. Denn oft werden die Zusatzstunden lediglich vertrödelt – wer viel Zeit hat, verschwendet sie gern.

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