Der Körper des Tuscheflecks

Übergänge zwischen Sprache, Bildern, Körpern und Vernunft: Georges Didi-Huberman erläuterte in Berlin seine Idee der ästhetischen Transformation am Beispiel Victor Hugos

Eine Vorlesung ist eine Vorlesung. Manchmal aber wird sie zu einer kleinen Aufführung. Wenn Georges Didi-Huberman, Kunsthistoriker und Philosoph aus Paris, am Institut für Theaterwissenschaften der FU spricht, ist die erste angenehme Überraschung für den Zuhörer, dass er sich einbilden kann, gut Französisch zu verstehen. Während der Mann im schwarzen Seidenanzug, der für ein Semester als Gastprofessor eines neu gegründeten interdisziplinären Sonderforschungsbereiches eingeladen ist, langsam und deutlich französisch artikuliert, darf man in der vorbereiteten deutschen Übersetzung auf den Knien mitlesen. Der Klang der zwei Sprachen ist die erste Synästhesie.

Der Vortrag im Rahmen einer Ringvorlesung „Transfigurationen – Ästhetische Strategien der Verklärung des Körpers“ trägt den Titel: „L’image hypocondriaqe/Das hypochondrische Bild“. Hinter dem Vortragenden sind immer zwei Lichtbilder zu sehen, vergrößernde Reproduktionen der sehr kleinen Zeichnungen von Victor Hugo: Wellen, die den Blick wie in einen Tunnel ansaugen; Felslandschaften, Schiffe im Sturm. Trotz der Kleinheit der Formate stecken sie voller Dramatik und Dynamik. Mit ihnen vor Augen erreicht der Vortrag über den Austausch zwischen visuellen und sprachlichen Formen im Werk Victor Hugos eine große Plastizität. Man glaubt dauernd, schon zu sehen, was man doch gerade erst hört. Die Augen dürfen dem Verständnis vorauseilen, das ist ein großes Vergnügen.

Georges Didi-Huberman, geboren 1953, dessen Bücher seit Ende der Neunzigerjahre auch auf Deutsch erscheinen („Die leibhaftige Malerei“ 2002, „Vor einem Bild“ 2000, „Was wir sehen, blickt uns an“ 1999) ist mit Lesarten von Texten und Bildern bekannt geworden, die für die Ausnahme und die Abweichung empfänglich sind. Wo das Werk über die Reflexion der Gesellschaft und seiner Zeit hinausgeht, beginnt es interessant zu werden. Bilder und Texte aus dem Kanon der Kunst, sei es von Fra Angelico, Balzac oder Victor Hugo werden dabei ebenso zum Material wie dokumentarische Fotografie aus der Geschichte der Krankheiten oder Artefakte der Volkskunde. Der Titel seines Buches „Was wir sehen, blickt uns an“ war Programm: Das Bild erhält bei ihm eine aktive Rolle, und die Beobachtung dessen, wie es angreift, was der Betrachter schon zu wissen glaubt, wird zum wichtigen Element seiner Methode. Gegenüber den Strukturalisten, die er als Student aus nächster Nähe kennenlernte, nimmt er damit eine kritische Haltung ein. Es reicht ihm nicht, Bilder allein wie Zeichen einer Sprache zu lesen.

Der Körper denkt mit in seinen Lektüren der Transfigurationen zwischen Sprache und Bild, Metapher und Form. Sein Vortrag folgt den Spuren der Transformationen zwischen Bildern des Körperinneren und äußeren Landschaftsformationen, zwischen dem Verschwinden im Meer und dem Verschwinden der Mutter, zwischen Felslandschaften und Feldern des Todes. In den Analogien zwischen den Bildern, in der Ähnlichkeit ihrer Rhythmen und Strukturen entdeckt er jenes Missing Link, das bisher zwischen Hugos Texten und den Zeichnungen auf dessen Manuskriptseiten gesehen wurde – nie sind sie direkte Illustrationen. Ihre formale Reduktion und ihre Offenheit für die Bewegung von Pinsel und Feder ließen sie immer wie einen erstaunlichen Vorgriff auf Formen der abstrakten Malerei sehen. Didi-Huberman dagegen beschreibt, wie in dieser scheinbaren Abstraktion sehr wohl eine ständige Umformung physischer Prozesse liegt.

Während er sich in 100 konzentrierten Minuten über Ausdehnung der Wahrnehmung, die Auflösung der Formen und die Streuung der Aufmerksamkeit verbreitet, scheint es mir, als redete er zugleich über das, was am Abend zuvor in einem Stück der Choreografin Meg Stuart zu sehen war. Dabei ist bei ihm mit keinem Wort vom Tanz die Rede. Doch ein wenig in Gedanken abzuschweifen, ist sicher in Ordnung: Immerhin befinden wir uns am Theaterwissenschaftlichen Institut, und die Ringvorlesung „Transfigurationen“ hat neben Kunst- und Theaterwissenschaftlern auch Filmwissenschaftler, Ethnologen und Religionswissenschaftler zu Gast.

KATRIN BETTINA MÜLLER