Aufruf zur Versöhnung im Irak

Stammeschefs, Geistliche, Politiker, Intellektuelle aus allen Landesteilen haben sich in der kurdischen Hauptstadt Erbil zur ersten gemeinsamen Konferenz über die Zukunft des Landes getroffen

AUS ERBIL INGA ROGG

Erstmals seit dem Ende der Diktatur haben sich am Wochenende in der kurdischen Hauptstadt Erbil Vertreter aus allen Regionen des Zweistromlandes versammelt, um über einen Prozess der Versöhnung zu beraten. Wegen des doppelten Selbstmordanschlags, der Anfang Februar mehr als 100 Menschenleben forderte, galten in der gesamten Stadt erhöhte Sicherheitsvorkehrungen.

„Nationale Versöhnung ist der einzige Weg zu sozialem Frieden und zum Wiederaufbau des Irak“, stand auf den farbigen Bannern in Arabisch, Kurdisch und Englisch, die am Tagungsort angebracht waren. Für viele der 600 Stammesscheichs, ehemaligen Offiziere, Politiker und Dichter sowie religiösen Würdenträger war es überhaupt der erste Besuch in Kurdistan, das mehr als zehn Jahre faktisch vom Rest des Landes abgetrennt war. Nicht minder ungewöhnlich war für sie der Tagungsort, den statt der irakischen Flagge die kurdische Trikolore mit gelber Sonne sowie ein Bild von Mullah Mustafa Barsani, dem Urvater der kurdischen Aufstände, zierte.

Gekommen sind sie aus dem tiefen Süden von Basra und Nassirija, aus den schiitischen Hochburgen Nadschaf und Kerbela, aber auch aus den Zentren der sunnitischen Untergrundkämpfer, Falludscha und Tikrit. In feinen Kamelhaarumhängen, einfachen arabischen Männergewändern, schicken Markenanzügen und abgewetzten Sakkos hörten sie sich zum Auftakt die Plädoyers der beiden kurdischen Politiker Masud Barsani und Dschalal Talabani für Demokratie und Föderalismus an. Es war zugleich der erste gemeinsame öffentliche Auftritt der beiden ehemaligen Kontrahenten.

Nach Jahrzehnten des extremen Zentralismus herrscht in weiten Teilen des Landes tiefes Misstrauen gegenüber dem kurdischen Föderalismus, in dem viele die Einheit des Landes bedroht sehen. „Der Föderalismus bedeutet Einheit und Versöhnung, weil er die Gleichheit zwischen Arabern und Kurden, Schiiten und Sunniten im neuen Irak garantiert“, sagte Barsani. Für Barsani, der zu dem Treffen eingeladen hatte und der im April die Präsidentschaft über den Regierungsrat übernimmt, war es zugleich eine Möglichkeit, aus dem Schatten der kurdischen Politik herauszutreten und sich als gesamtirakischer Politiker zu profilieren. Jahrzehntelang hatte seine Demokratische Partei Kurdistans (KDP) gegen die Zentralregierung einen Guerillakrieg für mehr Rechte der Kurden geführt.

Daran erinnerte auch Ibrahim Faisal, der zur Zeit der Niederschlagung des kurdischen Aufstandes Mitte der 70er-Jahre Generalstabschef der irakischen Armee war. Er sei froh, heute an diesem Ort zu sein und Frieden mit seinem ehemaligen Gegner zu schließen, sagte Faisal. Die Zeit der Gewalt sei vorbei, sagte der KDP-Chef. „Wie groß die Probleme auch sein mögen, wir müssen sie im Dialog lösen.“

Als besonders dringlich gilt dabei die Integration der vielen Mitläufer des alten Regimes. Sofern sie nicht an den Verbrechen des Regimes beteiligt waren, sollen Wege gesucht werden, die ihnen eine Zukunft bieten. Ausdrücklich will man sich an hochrangige Kader der Baath-Partei wenden, die aufgrund des Entbaathifizierungsbeschlusses von Paul Bremer im Mai ihre Jobs verloren haben. Aber auch an die nach der Auflösung der irakischen Armee arbeitslos gewordenen Exoffiziere. „Sie haben nicht nur ihr Einkommen verloren, sondern auch ihren sozialen Status“, sagte Saadun al-Duleimi. Das mache sie besonders anfällig für die Untergrundkämpfer im sunnitischen Kernland, die sich zum Teil auch aus dem Duleimi-Stamm rekrutieren. „So lange wir diesem Kreis keine Zukunft bieten, wird es auch keinen Frieden geben“, sagte Duleimi.

Dazu wurde bei dem Treffen die Gründung einer Versöhnungskommission beschlossen, die künftig in allen 18 Provinzen des Zweistromlandes ähnliche Treffen organisieren soll. Wenn auch nicht als Vorbild, so doch als Ideengeber sieht man die Wahrheitskommission in Südafrika. Wer sich jedoch an den Verbrechen gegen die Menschheit beteiligt hat, muss sich vor Gericht verantworten. Die Verfahren sollen nicht auf den Kreis der 55 Meistgesuchten beschränkt bleiben. Dieser Beschluss des Regierungsrats wurde in Erbil noch einmal bekräftigt.

„Wir haben hier die Pflanze des Friedens zwischen allen Gemeinschaften im Irak gesetzt“, sagte ein schiitischer Geistlicher aus Kerbela. Mit dem Föderalismus konnte er sich wie viele Schiiten indes noch nicht so recht anfreunden. Dafür habe er durchaus Verständnis, sagte der kurdische Publizist Hussein Sindschari: „Aus der Asche der Diktatur entstehen Vertrauen und Toleranz nicht von heute auf morgen.“