Soziale Bewegung an den Urnen

Die Franzosen lehnen die Reform von Renten- und Gesundheitssystem ab und stimmen gegen ihre rechte Regierung. Diese war nicht zum Dialog bereit

AUS PARIS DOROTHEA HAHN

Schwerer kann eine Niederlage kaum sein. Bei den Regionalwahlen, die am Sonntag gleichzeitig in allen französischen Regionen stattfand, haben die regierenden Rechten fast alles verloren, was sie hatten. Das Einzige, was ihnen bleibt, ist das Elsass. In allen anderen 21 Regionen bekam die Linke die Mehrheit der Stimmen. Zum ersten Mal seit 1988, als François Mitterrand seinen zweiten Wahlsieg als Staatspräsident errang, verfügen damit Frankreichs Sozialisten, Kommunisten und Grüne wieder über die Mehrheit im Land. Und zum ersten Mal überhaupt kontrollieren sie die Mehrheit der Regionen.

Der Erdrutschsieg hat alle überrascht. Niemand hatte erwartet, dass selbst historische Bastionen wie die Bretagne, das Pays de La Loire und die Auvergne, von denen manche seit Jahrhunderten nach rechts tendieren, „fallen“ könnten. Niemand, dass die rot-rosa-grüne Mehrheit so schnell wieder auftauchen könnte. Das zweite bedeutende Ergebnis der Regionalwahlen, das fast unverändert gute Abschneiden der rechtsextremen Front National mit landesweit rund 12 Prozent, ging angesichts des linken Erfolgs weitgehend unter. Dabei zeigt das Abschneiden der Front National, dass die Rechten auch beim Thema innere Sicherheit keine Unterstützung in der Bevölkerung finden. Innenminister Nicolas Sarkozy hat die Polizeikräfte und die Repression verstärkt und dabei stets betont, dass er so die rechtsextremen Wähler zurückholen möchte. Ganz offensichtlich ist Nicolas Sarkozy mit diesem Vorhaben gescheitert.

Staatspräsident Jacques Chirac, der vor 20 Monaten in der Stichwahl mit dem Rechtsextremen Jean-Marie Le Pen 82 Prozent der Stimmen gewann, ist heute ein einsamer Mann. Zwar verfügt Chirac über die absolute Mehrheit im Parlament und über die Gewissheit, bis zu den nächsten Präsidentschaftswahlen 2007 im Pariser Élysée-Palast bleiben zu können. Doch seine Regierung hat ihre Glaubwürdigkeit verloren. Ihre Reformpolitik wird abgelehnt. Punktuell war das in den vergangenen Monaten schon bei zahlreichen Streiks und Demonstrationen deutlich geworden. Dabei protestierten LehrerInnen, SchauspielerInnen, ÄrztInnen, Arbeitslose und ForscherInnen gegen Einschnitte im Sozialbereich: gegen die Verlängerung der Lebensarbeitszeit, gegen die Kürzung der Renten, gegen die Verringerung der Arbeitslosenunterstützung, gegen die geplanten Einschnitte in die Gesundheitsversorgung sowie auch gegen Etatkürzungen und das Einfrieren der Stellen in Schule, Kultur und Forschung.

Die rechte Regierung ließ jede einzelne dieser sozialen Bewegungen gegen die Wand fahren. Im vergangenen Sommer zog sie es sogar vor, die Festivals von Avignon und zahlreichen anderen Orten platzen zu lassen, anstatt Gespräche zu führen. Am Sonntag, bei der ersten und einzigen Halbzeitwahl dieser Legislaturperiode, haben die Franzosen in ihrer Mehrheit gezeigt, dass jene Proteste keine isolierten waren. Sie haben an der Urne ihre Bereitschaft gezeigt, die sozialen Errungenschaften zu verteidigen.

Die rechte Regierung hatte 19 MinisterInnen und StaatssekretärInnen in die Regionalwahlen geschickt. Alle sind gescheitert. Verkehrsminister Gilles de Robien, der das Streikrecht beschneiden möchte, erlitt eine Niederlage in der Picardie. Der Minister für den öffentlichen Dienst, Jean-Paul Delevoy, der die Privatisierung ganzer Dienststellen plant, unterlag im Nord-Pas-de-Calais. Sozialminister François Fillon, der die Rentenreform verfasst und das Arbeitsrecht eingeschränkt hat, scheiterte im Pays de la Loire.

Besonders schmerzhaft für die Rechten sind zwei Niederlagen von Prominenten: In der Auvergne scheiterte der Exstaatspräsident und Expräsident des EU-Verfassungskonvents, Valéry Giscard d’Estaing, der die Region seit 18 Jahren wie ein Feudalgebiet leitete, an einem bislang Unbekannten. Im Poitou-Charentes, wo Premierminister Jean-Pierre Raffarin anderthalb Jahrzehnte lang Regionalpräsident war, bekam seine Nachfolgerin 20 Prozent weniger Stimmen als die sozialdemokratische Herausfordererin Ségolène Royal.

Die siegreiche Linke übt sich seit dem Wahlabend in Bescheidenheit. Ganz so, als wäre der Wahlerfolg zu früh für sie gekommen. Einzelne SprecherInnen, darunter der Sozialist Jack Lang und die Chefin der KPF, Marie-Georges Buffet, kündigten an, dass sie in den nächsten Monaten intensiv auch an alternativen Regierungsprogrammen arbeiten würden.

Die Rechten traf das Wahlergebnis wie ein Donnerschlag. Am Wahlabend saßen sie mit bleichen und gespannten Gesichtern in den Fernsehstudios. Und sprachen von einer „massiven Niederlage“ und einem schweren Schlag, auf den sie „politisch“ reagieren müssten. Die „Reformen“, wie der Sozialkahlschlag im Regierungsjargon genannt wird, wollen sie freilich dennoch fortsetzen. Begründung: Sie sind richtig und notwendig. Allerdings, so die einzige Selbstkritik aus den Reihen der Rechten, müssten sie künftig „besser vermittelt“ werden.

Alle Blicke konzentrieren sich jetzt auf Präsident Chirac. Er muss entscheiden, ob er lediglich ein paar MinisterInnen oder die ganze Regierung auswechselt. Oder ober er seine Politik verändert. Am Montag teilte die Pressestelle des Staatspräsidenten mit: „Der Präsident arbeitet zusammen mit dem Premierminister an den Entscheidungen, die in den nächsten Tagen getroffen werden müssen.“