Seitenflügel vor Frühlingsbeginn

Ein hauptstädtisches Stillleben mit Wasserflaschen und Zipfelmützen

„Eigentlich wohn ich ja da oben“ murmelt er, „wo du Scheißkerl wohnst!“

Im Grunde genommen ist nichts an der Gegend auszusetzen. Beruhigend fließt der unergründliche Kanal am Haus vorbei und verströmt einen einschläfernden Geruch nach Algen, feuchten Broten und Fischsuppe. Hin und wieder freilich versucht der ewig sturzbesoffene Arbeitslose aus dem zweiten Stock meine Tür aufzubrechen, weil er von der Wahnidee besessen ist, dass meine Wohnung in Wahrheit seine ist. Und neulich hat die Polizei sämtliche verfügbaren Bewohner nach den eventuellen Gründen dafür befragt, dass die Frau aus dem Tiefparterre – nur mit einem Bademantel bekleidet – tot aus dem nahen Hafenbecken gezogen werden musste.

Heute Abend, als ich von meinen ziellosen Wanderungen durch die Stadt zurückkehre, hockt eine Ratte auf der Türschwelle meiner Wohnküche unterm Dachstock. Sie scheint zu schlafen und erwacht erst, als ich sie leicht mit dem Fuß anstupse. Ich schaue einen Moment in ihre blinzelnden, wässrigen Augen und treibe sie die acht Treppen in den dunklen, feuchten Hof hinab. Bei jeder Kehrtwende der Stiege prallt sie gegen die schmutzigbraune Wand und hinterlässt einen nassen Klecks. Vielleicht ist sie krank? Doch kaum zur Hoftür hinausgeflutscht, verschwindet sie in einem winzigen Loch zwischen überquellenden Mülltonnen. Für einen kurzen Moment scheint sie festzustecken, ein einziger fellverbrämter Speckring. Dann ist sie weg.

Als ich im engen Schacht des Innenhofes aufwärts blicke, um ins verquollene Mondgesicht zu schauen, das hinter verrußten Wolkengardinen hervorlugt, sehe ich in die Krone des Baumes, der den oberen Teil des Hofhohlraumes mit seinem dürren Astfingern ausfüllt. Im leichten Wind kratzen sie an den blechernen Dachrinnen. Aus den Schloten des Nachbardaches quillt leuchtend gelber Qualm. Einlullend senkt er sich auf die Nebelkrähen, die im Gezweig ihre Schlafplätze eingenommen haben und in ihrer zusammengesunkenen Gestalt wie übergroße Fledermäuse wirken. Auf den verrosteten Fahrrädern am Boden kleben große Krusten aus Vogelmist.

Im Treppenhaus begleitet mich der gerade Heimtorkelnde aus dem zweiten Stock nach oben. Ich nehme ihm sicherheitshalber seinen Schlüssel ab, den er an einem Bändel um den Hals trägt, sperre seine Wohnungstür auf und schiebe ihn ins Dunkel des Gelasses. Ein schmaler Pfad zwischen leeren Bierflaschen führt hinein. Ein indefiniter süßlicher Geruch wie von verfaultem Obst kommt heraus. „Eigentlich wohn ich ja“, murmelt er zähneknirschend, „da oben, wo du Scheißkerl wohnst!“ Mordlüstern rollen seine schielenden Augen, doch alkoholbedingt ist das auch alles.

Für einen Moment stelle ich mir vor, hinter ihm abzusperren und den Schlüssel in das Rattenloch im Hof zu werfen. Ich stecke ihn jedoch von innen in sein Türschloss und ziehe die Tür zu. Dumpf ist zu hören, wie er zwischen die leeren Flaschen fällt. Ich finde es erstaunlich, dass er mitunter auch bei großer Kälte, nur mit kurzer Leinenhose und Unterhemd angetan, im zugigen Treppenhaus auf dem Boden liegend schlafen kann. Wie ein Hund.

Vom eigenen Zimmer aus blicke ich in verschiedenste Nachbarzellen. Die schwach erleuchtete Fensterfront meines Nachbarn vis-à-vis ist am geheimnisvollsten. Jalousien verhindern Tag und Nacht den Einblick. Manchmal ist am Tag ein Fenster leicht geöffnet. Eine Reihe leerer Wasserflaschen in der Küche wird länger, verschwindet ganz, baut sich wieder auf, ohne dass ich auch nur einmal eine Hand erblickt hätte, die im Spiel gewesen wäre, eine Bewegung oder den Schattenriss einer huschenden Gestalt. Rechts davon sind zugedröhnte Jugendliche eingezogen, die nur mit blau gestreiften Zipfelmützen bekleidet um die Mittagszeit durch ihr kahles Zimmer hampeln. Wenn die nackten Wichtel bloß ihre Fenster zumachen würden, damit man ihren kitschigen, wichtigtuerischen Gesang nicht hören müsste, zu dem sie arhythmische Schreie ausstoßen! Aus einer der unteren Wohnungen tönt das vertraute kratzige Keuchen und Husten eines vermutlich Schwindsüchtigen. So geht das schon seit drei Jahren. Das Husten kommt im mittleren Abstand von dreißig Sekunden. Ob der unermüdliche Arbeiter gegenüber im zweiten Stock wohl jemals seine Diplomarbeit fertig bekommen wird? Er sitzt immer vor seinem Computer. Unklar ist mir, woher er seine Luft bezieht, denn seine Fenster wurden noch nie geöffnet. Meine schließe ich jetzt und ziehe die schweren Vorhänge vor.

Man darf die Hoffnung nicht aufgeben. Dies ist die deutsche Metropole. Hier wird sich das Schicksal entscheiden. Vielleicht zuckt es aber auch einfach nur mit den Schultern. TOM WOLF