Der Ersatzkeeper

Im heutigen Testspiel gegen Belgien steht erstmals seit Oktober 2002 Jens Lehmann im deutschen Tor. Gut möglich, dass es auch das letzte Mal ist

AUS KÖLN MATTI LIESKE

Wann er zum letzten Mal ein Spiel verloren hat, daran kann sich Jens Lehmann vermutlich gar nicht mehr erinnern. Entsprechend stolzgeschwängert tritt er auf vor dem Länderspiel gegen Belgien, bei dem er heute (20.30 Uhr/ARD) endlich mal wieder das Tor der deutschen Nationalmannschaft hüten darf. In bravem Gedenken an die Londoner Friedensgespräche, die er kürzlich mit Rudi Völler führte, enthält er sich jeder Spitze gegen den übermächtigen Rivalen Oliver Kahn, lässt alle Vorlagen ungenutzt, die der Münchner zuletzt auf Spiel- und anderen Feldern lieferte, und ist geradezu ein Muster an strafraumpolitischer Korrektheit. „Ich freue mich immer, in der Nationalmannschaft zu spielen“, verrät er, „ich hoffe, ich mache alles richtig.“ Komisch, dass sogar solch harmlose Worte wie eine Kampfansage klingen, wenn sie von Lehmann ausgesprochen werden, der in den blitzenden Augen das geballte Selbstbewusstsein des Stammtorhüters einer der drei besten Fußballmannschaften Europas beherbergt. Noch Fragen? Bestimmt nicht mehr die, wer für Jens Lehmann der beste deutsche Torhüter ist.

Bei seinem letzten Putschversuch im Februar, für den er von Teamchef Völler gemaßregelt wurde, war Lehmann deutlicher geworden. Nur zwei Fehler hätte er im letzten Jahr gemacht, da könne er sich schwer vorstellen, dass es einen gäbe, der besser sei, sagte er da und bekam prompt Kahn’sche Schützenhilfe durch diverse Patzer des Bayern. Genützt hat es Lehmann nichts, was auch daran liegt, dass seine Definition eigener Fehlgriffe etwa die Aussagekraft einer Schröder’schen Regierungserklärung besitzt. Als er im Champions-League-Viertelfinale beim FC Chelsea (1:1) letzte Woche nach wildem Herauslaufen Stürmer Gronkjaer anschoss und so das Gegentor verursachte, lautete Lehmanns Analyse ungerührt: Alles richtig gemacht, der Kerl hatte bloß Glück. Hätte Lehmann anstelle Kahns den Freistoß von Reals Roberto Carlos passieren lassen, es wäre ihm garantiert gelungen, einen plötzlich aufgetauchten Maulwurf, den Ball oder einfach Sammy Kuffour dafür verantwortlich zu machen.

Unbestreitbar ist jedoch, dass Jens Lehmann beim englischen Meister eine glänzende Saison spielt. Das bestätigt gern auch Coach Arsène Wenger. Arsenal sei mit dem Deutschen eindeutig besser geworden, sagt der Franzose und unterstützt den Anspruch seines Keepers auf die Nummer eins im DFB-Team. Derartige Flausen hat Völler dem 34-Jährigen indes ausgetrieben. Lehmann bleibt der Vize-Kahn, so die klare Position des Teamchefs, der es dem Münchner auf ewig danken wird, dass dieser ihn fast im Alleingang zum Vizeweltmeister machte.

In Köln sieht es so aus, als hätte sich Jens Lehmann mit der Situation abgefunden. Vielleicht trägt dazu die Erinnerung an seine Anti-Kahn-Offensive des Frühjahrs 2000 vor der letzten EM bei. Auch da erhob er Anspruch auf die Nummer eins – und verlor hernach die Nerven. Der Kampfansage folgten bei Borussia Dortmund haarsträubende Patzer in Serie, und als Krönung gab es beim Länderspiel gegen die Schweiz einen durchgerutschten Freistoß, der fatal Kahns Carlos-Blackout ähnelte.

Zumindest heute steht Jens Lehmann noch einmal im deutschen Tor, erstmals seit Oktober 2002 beim unglückseligen 1:1 in Bosnien-Herzegowina, und möglicherweise zum letzten Mal. Bei den kommenden Testspielen dürfte wieder EM-Keeper Kahn den Vorzug erhalten, und dass der DFB nach der EM noch mit Lehmann plant, ist unwahrscheinlich. Dann werden wohl eher Leute wie Hildebrand und Wiese nachrücken. Da trifft es sich gut, dass das heutige Match gegen Belgien von den vier Partien, die Lehmann binnen neun Tagen zu absolvieren hat, das unwichtigste für ihn ist. Was zählt, sind die beiden Spiele gegen Manchester United in der Liga letzten Sonntag (1:1) und im FA-Cup am Samstag, sowie vor allem das Champions-League-Rückspiel gegen Chelsea am Dienstag. Da muss Arsenal das 1:1 verteidigen. Es wäre gut, wenn Jens Lehmann alles richtig macht.