An ihrer Ziege sollt Ihr sie erkennen

Parallelogramm-Tier oder Hängeohr mit dünnen Beinen: Marcks und Wimmer, die „letzten Mohikaner“, brillieren im Gerhard Marcks Haus figürlich und pfeifen auf die Documenta und anderes modernes Zeug für den Pöbel

Seit den Sechzigern waren Marcks und Wimmer nur noch Randerscheinungen

Ein Däumling könnte hinter ihren Ohren am Hals herunterrutschen bis zur Kruppe: So regelmäßig und aerodynamisch wirkt die Ziege, die Gerhard Marcks 1968 auf Kreta modellierte. Zwar hat sie vom Bärtchen bis zum Stummelschwanz alle ziegentypischen Attribute. Doch ihre Form ist verdichtet und geklärt bis zum Parallelogramm.

Auch Hans Wimmer hat 1968 auf Kreta eine Ziege geformt, als er seinen Freund Gerhard Marcks dort besuchte. Ob ihm dabei dasselbe Tier Modell gestanden hat, ist nicht überliefert. Doch die Ausstellung „Wir sind letzte Mohikaner – die späten Jahre“, die Wimmer und Marcks gewidmet ist, zeigt: Auch ein identisches Modell hätte als Skulptur bei Hans Wimmer ganz anders ausgesehen. Anders als Marcks ist Wimmer nicht auf der Suche nach einem zusammenfassenden „Zeichen“ für eine bestimmte Form. Wimmer geht vom Einzelnen aus. Statt der „Ziege an sich“ will er „diese besondere Ziege“ abbilden.

Dafür verschärft er die Gegensätze innerhalb der Figur: Seine Tierplastik hat besonders dünne, lange Beine, die den massiven Körper betonen. Beim Rumpf des betagten Muttertiers akzentuiert er den Senkrücken, die vorstehenden Schulterblätter und die eingefallenen Flanken. Die Ohren, bei Marcks’ Ziege keck aufgesetzt und die Linie des Kopfes betonend, hängen bei dem Wimmerschen Tier extrem dünn und schlappohrig herunter.

Überhaupt erstaunlich, dass Marcks (1889 - 1981) und Wimmer (1907 - 1992) damals auf Kreta herumsaßen und ausgerechnet Ziegenohren modellierten. Schließlich bot der angeblich so heiße Sommer 1968 eine Vielzahl anderer schöpferischer Visionen und animalischer Leidenschaften. Doch wahrscheinlich haben sich die beiden älteren Herren, die eine langjährige Freundschaft verband, der Jugend-Revolte mit Absicht entzogen. Sie gehörten längst zum Bildhauer-Establishment und haben als „letzte Mohikaner“ eine Synthese aus exakter Naturbeobachtung und abstrahierender Formfindung verteidigt.

Das Gerhard Marcks-Haus gliedert die Arbeiten der beiden in vier Themenschwerpunkte: Tierskulpturen, Portraits, Genrefiguren und oft lebensgroße Gewand- und Aktfiguren. So wie Wimmers üppige „Herabschreitende“. Die Marckssche „Jungfrau“ wirkt durch die völlig ebenmäßigen, symmetrischen Formen reduzierter, nüchterner, erscheint eher als „Typus“, weniger als „Person“. Beide Akte sind Form- und Bewegungsstudien von Bildhauern, die sich als „Handwerker“ sehen: Das Gleichgewicht von Natur und Form wollen sie in jeder Skulptur neu formulieren.

Besonders unangestrengt wirken die Genre-Figuren, also laut Brockhaus „Kleinplastiken mit anekdotischem Charakter“. Der versunken spazierende „Palmström“ von Gerhard Marcks erinnert durch die vollendet gerundeten, auf den Punkt gebrachten Körperlinien fast an einen VW-Beetle.

Eine andere, von Marcks modellierte Skulptur zeigt einen Arzt, der einen nicht enden wollenden EKG-Ausdruck betrachtet. Die kleine Skulptur wirkt wie ein ironischer Kommentar des Künstlers zum eigenen Älterwerden.

Toller treibt es der Purzelbaum schlagende Alte von Hans Wimmer, der kopfüber kugelt, die greisen Genitalien zum Himmel gereckt. Der ganze ausgezehrte Körper trotzt lachend der Hinfälligkeit – und vielleicht auch den aktuellen Entwicklungen in der bildenden Kunst. Denn es ist längst Nacht geworden über der Prärie der letzten Mohikaner: „Im wunderschönen Monat Mai sind alle die zarten Frühlingsfarben vergröbert. Pop Art“, schreibt Marcks 1978 seinem Freund Wimmer.

Die Ausstellung im GMH zeigt klar und eindringlich, wie sich die beiden Künstler unterschieden und was sie verband, und würdigt zwei Klassiker der figürlichen Tradition. Seit den 60er-Jahren waren Marcks und Wimmer nur noch Randerscheinungen der Kunst-Szene. Und sie verachteten die neuen Strömungen in der Kunst. „Die Documenta hat von Jahr zu Jahr mehr Besucher“, schreibt Marcks. „Dem Pöbel gefällt sie eben.“

Katharina Müller

„Wir sind letzte Mohikaner“, Gerhard Marcks und Hans Wimmer. Ausstellung bis 10. August im Gerhard-Marcks-Haus