„Das ist wahrscheinlich meine allerletzte Wahl“

Henning Scherf ging wählen und ein Haufen Journalisten musste deshalb früh aufstehen – der Rest des Tages verläuft unaufgeregt

„Grausam, oder?“ Der eine Fotograf guckt den anderen an, wischt sich über die Stirn, wo ein Hauch von Schweiß im Neonlicht glänzt. „Höchststrafe“, sagt der andere, „musst du gleich auch noch zu Perschau?“

Es ist kurz vor neun am Tag aller Tage für das politische Bremen, in einem kleinen Raum im Rembertistift drängeln sich 30 Fotografen, Kameramänner, Rundfunkreporter, Schreiberlinge um eine Wahlurne aus grauem Plastik und warten auf Henning Scherf. „Achtung“, schreit einer von draußen: Der Bürgermeister ist im Anmarsch – Henning und Luise Scherf gehen vor dem heftigen Regen geschützt durch einen großen weißen Regenschirm in ihr Wahllokal. Augenblicklich ist Stille im Raum. Scherf parliert draußen mit einer älteren Dame. „Na, auch Frühaufsteher?“, fragt er die entzückte Frau und gibt ihr die Hand. Derweil sagt im Wahlraum einer in die gespannte Ruhe: „Wir können ja einfach mal nichts sagen. Gar nichts.“ Ein anderer assistiert: „Oder einfach mal nicht fotografieren.“ Bevor darüber noch einer kichert, tritt Scherf ein und die Kameras surren. „Entschuldigung“, sagt Scherf zu der verquollen guckenden Menge, die um 9 Uhr an einem Sonntag sich eigentlich lieber woanders befinden würde, „das liegt an der 800-Jahr-Feier in Schwanewede, da muss ich nämlich gleich hin.“ Den Rest des Tages füllt dann ein Spargelessen. Wie groß die Anspannung sei, will ein Reporter wissen, wie er geschlafen habe, eine Reporterin. „Spannend“ sei der Tag, antwortet Scherf, und: „Das ist wahrscheinlich meine allerletzte Wahl.“ Was auch immer der Tag bringen werde –„ich kann mit beiden Alternativen gut leben“, sagt der 64-Jährige.

Geduldig ist er, freundlich, ganz sanft. Jeder kriegt sein Bild,und es ist seine Frau Luise, die mit einem lächelnd-genervten „Zack“ ihrem Mann irgendwann den eine kleine Ewigkeit in den Urnenschlitz gehaltenen Wahlumschlag aus der Hand nimmt und einwirft. Dann wollen alle immer noch wissen, wie es ihm geht und er soll hierhin gucken und dahin und „Ihre Frau bitte auch“. „Ich hör nicht auf, bis Sie alle sagen, ich hab genug“, sagt er und guckt hier und da. „Das kann ja noch Jahre dauern“, witzelt ein Kameramann, und irgendwann fragt Henning Scherf: „Wer will noch was von mir?“ Da ruft es aus dem Hintergrund: „I-hich!“, Luise Scherf nämlich, und beide gehen Arm in Arm unter dem großen weißen Schirm im Regen davon, gefolgt von Kameras und Mikrofonen. Es ist 9 Uhr 13, im Rembertistift riecht es nach Kamillentee, und die alte Frau M. muss dringend aufs Klo.

Der Rest des Tages bleibt ruhig. Wechselstimmung sei nicht zu spüren, sagt mittags eine Wahlhelferin in der Neustadt. Sie wähle Scherf, bekennt eine Frau, immer schon: „Weil die Bremer treu sind. Und man auch mal was verzeihen kann.“ Ein älterer Mann sagt: „Unter den vielen schlechten Lösungen wähle ich die am wenigsten schlechte“, deshalb wähle er SPD, „kennen Sie eine Alternative?“

Die kennen durchaus einige Wählerinnen und Wähler. „Die Grünen beziehen ganz klar Position, was für unsere Kinder gut ist“, sagt eine Frau. „Keine demokratischen Strukturen mehr“ kann ein anderer erkennen. Und ein Dritter erklärt: „Große Koalitionen sind nie gut.“ Ist Rot-Grün also besser? „Nö, auch nicht.“ Warum nicht? „Ich bin zu alt, um noch Optimist zu sein. Vielleicht bin ich einfach Realist.“

Es sei doch gut so wie’s ist, findet eine ältere Frau: „Die sind doch beide gleichwertig begabt, der Perschau“, sagt sie und sinnt nach, „und der, na wie heißt der noch gleich – der, der immer lächelt.“ Susanne Gieffers