Die schnellste Ente von Berlin

Beim 10. Berliner Frauenlauf rennen und walken 10.000 Frauen durch den Tiergarten. Mit dem „M“ auf der Brust im Gedrängel vorbei an den „Ausziehen!“-Rufern. Ein Selbstversuch in 42 Minuten und 48 Sekunden

Christina aus Düsseldorf steht am Start direkt neben mir. Sie federt elastisch in den Knien und fragt mich in fröhlichem rheinischem Singsang, was wohl das „M“ auf unseren Startnummern bedeuten mag. Ich weiß es nicht. Ich weiß so vieles nicht. Vor allem nicht, was mich, eine die Einsamkeit baumgesäumter Waldwege liebende Läuferin, dazu getrieben hat, am 10. Berliner Frauenlauf teilzunehmen.

Mehr als 10.000 Frauen treffen sich am Samstag, um bei 30 Grad durch den Tiergarten zu laufen. Zur Wahl stehen zehn Kilometer (indiskutabel für mich), fünf Kilometer (indiskutabel für mich) sowie fünf Kilometer Walking. Das kann ich. Walkerinnen laufen hier außerhalb der offiziellen Wertung. So wird unmissverständlich klar gemacht, wo ungefähr in der Cooles-Laufen-Hierarchie wir uns verorten sollten: im unmessbaren Bereich.

Dennoch, so wenige, wie ich immer dachte, sind wir gar nicht. Dass Walken blöd aussieht, weiß ich, weil mich bei fast jedem Waldlauf Kinder amüsiert nachäffen und Jugendliche „Rennen, Oma!“ rufen. Walker lächeln sich im Begegnungsfall im Wald verschwörerisch an. Wir wissen, wie gut Walking die Gelenke schont, wie optimal der Verbrennungspuls ist, wie zufrieden wir mit uns sind.

Aber jetzt stehe ich hier auf der Straße des 17. Juni und bin sicher, als Letzte durchs Ziel zu watscheln. „Final Countdown“ dröhnt aus den Boxen, ich erwäge die Flucht. Aber dann knallt der Startschuss, und wir – jetzt sind wir wir – schieben ab.

500 Meter nach dem Start, der Sonne hinter der Goldelse entgegen, will ich aufhören. Das Gedränge nervt, von Frauensolidarität keine Spur. Aber ich mache weiter. Den Weg durch den Tiergarten säumen die euphorischen Familien der Läuferinnen, und besoffene Schulle-Berliner, die „Ausziehn!“ fordern.

Ab Kilometer 1 fängt es an, richtig Spaß zu machen. Ich überhole jede Menge Läuferinnen, die sich eindeutig nicht in der Kategorie Walken gemeldet haben. Geil! Ich beginne, mir die Bahn frei zu kämpfen, indem ich andere Frauen ein bisschen abdränge. Ich ignoriere die Wasserstelle bei Kilometer 2, das habe ich nicht nötig. Bei Kilometer 4,5 sehe ich jede Menge Frauen abkürzen. Das mache ich selbstverständlich nicht: Ich bin die schnellste Ente Berlins. Aber im Ziel tue ich das Undenkbare: Ich reiße die Arme über den Kopf. Ich bin da, ich hab’s geschafft. In 42 Minuten und 48 Sekunden. Und: Hinter mir kommen noch hunderte andere.

Am Wasserhahn treffe ich Christina aus Düsseldorf wieder. Sie ist gejoggt, kam aber nur drei Minuten vor mir ins Ziel. Wir sind beide hochzufrieden. Christina hat übrigens herausgefunden, was das „M“ auf unseren Startnummern bedeutet: Älter als 35. Charmant! ANJA MAIER