Schlüpfer aufgeschnappt

Erst der Kampf, dann der Diskurs: Wo die letzten Revolutionäre Kreuzbergs dem eigenen Mythos folgen und trotzdem ungestraft in der Event-Häppchen-Kultur naschen dürfen. Die Buchnacht in der Oranienstraße macht es möglich

Das Möbel Olfe, Kreuzbergs neuester Szenetreff, ist kein Ort, an dem Dichter idealerweise ihre Texte vortragen können: zu viele Ecken und Nischen, zu viel Tischfußball, zu viel Absturz, zu wenig stille Momente. So haben die Betreiber für die sechste lange Buchnacht in der Oranienstraße aus der Not eine Tugend gemacht und zwei Kneipentische zu einer Lesebühne zusammengestellt, auf der wiederum ein Tigerfell, ein Lampenschirm, ein Barhocker und ein Mikro drapiert sind. Das sieht gut aus, hält anscheinend bombenfest und funktioniert, weil so alle gut sehen und hören können.

Und genügend Symbolik hat es auch: Über allem schwebt an diesem Sonnabend in der Oranienstraße der Dichter, die Dichterin, die Literatur, das Buch. Kreuzberg liest, nicht Köln, nicht Klagenfurt, weshalb im Olfe der Kreuzberger Autor, Musiker und Publizist Leonhard Lorek einen Text über einen Kreuzberger vorträgt, der im Kreuzberger Café Anal viel Seltsames erlebt; ein Text, der im „Kreuzbergbuch“ des (allerdings in Mitte residierenden) Verbrecher Verlags seine first appearance in der Weltliteratur erfuhr.

Viel Lokalkolorit also, viel Kreuzbergerei, zwischen den Orten und Zeilen aber der Anspruch, kein gewöhnlicher Literaturevent zu sein, sondern ein ganz besonderer, von wegen Mythos von Kreuzberg: die tollen Achtziger, die zumindest in Kreuzberg zwar depressiven, aber doch okayen Neunziger, die Hausbesetzer, die Punks, die Chaoten, die Türken, die Scheiß-auf-Mitte-und-Scheiß-auf-deutsche-Texte-Hipster, die Künstler, die Elfen, die Nasenflöten, die Brezels und Höges. Wer hier schreibt, Musik macht und anderweitig künstlert, macht das anders als anderswo, immer mit einem Hau, oft mit einem politisch korrekten Approach. Da liegt es nahe zu sagen: Auf den revolutionären Mai folgt die revolutionäre Buchnacht, erst der Kampf, dann der Diskurs und vice versa. Hier liegen die No Logos und die Empires ganz vorne in den Auslagen, nicht die Belletristik, nicht Dieter Bohlen.

In der Realität sieht das selbstverständlich anders aus. Die lange Buchnacht in der Oranienstraße ist mit über 50 Lesungen ein Literaturevent wie jeder andere, ein Fest eben, wo der Germanistikprofessor und Feuilletonliebling Gregor Hens oder die notorische Tanja Dückers genauso lesen wie der Berlin-Krimi-Schreiber Mani Beckmann oder unsere Sex- und Themenläden-Kolumnistin Jenni Zylka. Hier ruft nicht einmal mehr der Ex-’n’-Pop-Held Harry Hass zum Kampf auf und bedroht, so wie früher, jeden lauten Zwischenrufer damit, standrechtlich erschossen zu werden. Lesen und gesehen werden und frei nach The Fall: willkommen im Tempo-House, willkommen in den Nullern.

Allein das hochsommerliche Wetter lädt nicht dazu ein, in vollen und heißen Läden konzentriert zu lauschen, zudem sowieso mehr gezappt und gesurft werden will und geschwatzt und getrunken sowieso. So geht Leonard Lorek am frühen Abend im Olfe noch gut, auch Yadé Kara bei Max und Moritz, wo die ganz Beflissenen ihren schwatzenden Hinterleuten mit „Psssst!“ Ruhe bedeuten.

Die „Loch im Brot“-Verfasserin Iris Hanika aber, die um 20 Uhr in der dunklen Makabar liest, fühlt sich extrem gestört durch den Kreuzberger Auflauf und bittet die Türen zu schließen, damit sie sich besser auf die Lesung konzentrieren kann, damit es aber auch noch heißer wird in der Makabar. Und so geht es dann weiter: rein, raus, hier was aufgeschnappt, dort einen Satz, hier jemanden getroffen, dort was gegessen und noch mal ins Programm geschaut.

Alles schön unterhaltsam, da freut man sich, dass hier alle wegen Büchern und Lesungen gekommen sind und die Oranienstraße noch lebendiger machen, als sie sowieso schon ist; und dass Bücher auch Rock sein können mit allem, was dazugehört. Bei Gregor Hens und Stefan Maelk im SO 36 finden sich fast genauso viel Menschen ein wie sonst bei den Goldenen Zitronen oder At The Drive-In, und viele junge dazu, was ja bei Rock nicht immer der Fall ist.

Andererseits macht das Ganze nur wenig Sinn, zumindest wenn man wirklich konzentriert zuhören will und sich Anregungen für den nächsten Buchkauf verspricht. Ein Großteil der Autoren und Autorinnen und ihre Bücher werden nicht einmal vernünftig vorgestellt. So begnügt man sich beispielsweise bei Stefan Maelk damit, ihn einfach einmal gesehen und zumindest ein Wort, das scheinbar recht oft in seinen Hank-Meyer-Romanen vorkommt, aufgeschnappt zu haben: „Schlüpfer“.

Richtig zu sich kommt diese Buchnacht dann aber erst kurz vor Mitternacht beim Auftritt der Wurlitzer Gang im Groß- und Billigbuchladen Kisch und Co: Country ’n’ Roll spielen die, au ja, „Ring Of Fire“ zwischen Büchern und Zeitschriften, schön zum Mitwippen, gerade mal semilustig: Kreuzberg, wie es leibt und kiezt. GERRIT BARTELS