„So eine Familiensache“

In Harburg steht ein 23-Jähriger vor Gericht, der auf offener Straße auf seine ältere Schwester einschlug. Die verweigert die Aussage. „Eine bloße Rangelei“, behauptet ihr Bruder, mit verletzter Familienehre habe das nichts zu tun gehabt

„Ich bin mit der Strafe nicht zufrieden. Ich lasse mir wegen so einer Familiensache doch nicht meine Zukunft verbauen“

Erst sieht es aus, als käme wieder niemand. Nicht der Angeklagte und nicht die Geschädigte. Vor Saal 257 des Harburger Amtsgerichts sitzt nur wieder die Zeugin, die sah, wie Özgür D. auf offener Straße auf seine Schwester Yasemin D. einschlug. Laut Anklage tat er das, weil sie sich mit einem Mann unterhielt. Die Staatsanwaltschaft nennt das „den Gesichtspunkt der vermeintlich verletzten Familienehre“.

Es ist schwierig, an diesem Tag nicht an den anderen Prozess zu denken, der zeitgleich in Hamburg beginnt (siehe oben). Der gegen Ahmad O., der seine Schwester Morsal erstach, weil er ihren Lebensstil nicht billigte. Man hofft, hier in Harburg ein Gegenbeispiel zu finden, eine Frau, der die Trennung von einer gewalttätigen Familie gelingt. Zwei Stunden später weiß man es besser.

Die Zeugin ist eine Frau mittleren Alters mit kurzen Haaren, bodenständig würde man sie nennen. Sie sagt, dass Yasemin D. zwei Tage nach dem Vorfall zu ihr kam und sich entschuldigte. Ihren „kleinen“ Bruder entschuldigte. Yasemin D. ist 31 Jahre alt, Özgür D. acht Jahre jünger. Aber die Zeugin sagte ihr, dass sie ihre Aussage nicht zurückzöge.

Als Yasemin D. kurz vor dem Termin doch noch kommt, geschminkt, mit blondierten Haaren und im kurzen Rock, entschuldigt sie sich wieder. „Es tut mir leid, dass das Ihnen so viel Umstände macht“, sagt sie. Und dem Richter erklärt sie, dass ihr Bruder gleich käme. „Er parkt noch ein.“ Özgür D. trägt einen blauen Dufflecoat, er ist sorgfältig frisiert. Er hat den Realabschluss, ist im dritten Lehrjahr als Hotelfachmann und lebt bei seinem Onkel. Als Jugendlicher geriet er dreimal mit dem Gesetz in Konflikt: 2003 wegen gefährlicher Körperverletzung, – wofür er Arbeitsdienste leisten musste –, 2005 wurde beim Verstoß gegen das Waffengesetz und 2007 bei Diebstahl von einer Verfolgung abgesehen. Die Anklage kann der Staatsanwalt noch ohne seinen Widerspruch verlesen, danach wird es schwierig. Seine Schwester verweigert die Aussage. Özgür D. bestreitet, dass er sie geschlagen hat. Er nennt es eine „Rangelei“, man habe sich gegenseitig geschubst. Es sei nicht darum gegangen, dass sich Yasemin D. mit einem Mann unterhalten habe. „Ich bin in Deutschland aufgewachsen“, sagt er. „Ich sehe das nicht mehr so wie die Älteren“. Man habe als Familie „gewisse Probleme“, aber dazu wolle er sich nicht äußern. Außerdem hätten er und seine Schwester sich inzwischen vertragen.

Die Zeugin sagt dagegen aus, dass Özgür D. auf seine Schwester eingeschlagen habe. Auf Bitten der zweiten Schwester, die ebenfalls dabei war, habe sie die Polizei gerufen. Sie habe Yasemin D. in das Haus gezogen, in dem sie arbeitet und Yasemin D. wohnt. Die junge Frau sei dann aber wieder hinausgelaufen. Die Zeugin sagt, dass auch Yasemin D. geschlagen habe, sie habe einen Gegenstand in der Hand gehalten. Der Gegenstand war ein Messer. Doch Özgür D. habe auch nachdem die Waffe weggeflogen sei, auf seine am Boden liegende Schwester eingeschlagen.

Der Richter erklärt Özgür D., dass er Fragen an die Zeugin stellen dürfe, aber Özgür D. hat keine Fragen. Er hält ihr stattdessen vor, dass sie nichts gesehen haben könne. Er fordert einen Rechtsanwalt. Beim letzten Termin hatte er den von ihm bestellten nicht bezahlt, nun ist es zu spät dafür. Der Staatsanwalt fordert vier Monate auf Bewährung wegen Körperverletzung für den Angeklagten. „Ich bin mit der Strafe nicht zufrieden“, ruft Özgür D. „Ich lasse mir wegen so einer Familiensache doch nicht meine Zukunft verbauen.“ Dann verlässt er den Saal. „Ich will nicht noch einen Arbeitslosen produzieren“, sagt der Richter, als er das Urteil verkündet. Drei Monate auf Bewährung, ausgesetzt auf drei Jahre. Das bedeutet, dass die Strafe nicht im Führungszeugnis erscheinen wird. Özgür D., inzwischen zurückgekehrt, stellt seinen Stuhl ordentlich zurück. Der Richter hat ihm gesagt, dass er uneinsichtig sei. Er hat erklärt, dass Gewalt gegen andere nicht zu dulden sei. Yasemin D. ist nicht mehr da, um das zu hören. FRIEDERIKE GRÄFF