Sozialstaat schrumpft, Demonstrationszüge wachsen

Bisher größte Massenkundgebungen in Frankreich gegen die Rentenreformpläne der Regierung. Eine neue soziale Bewegung erobert die Straße

PARIS taz ■ „Bonne fête, maman“, hat eine junge Frau auf ihr Transparent geschrieben und einen üppigen Blumenstrauß dazugemalt, „du darfst bis zum Tod arbeiten.“ Eine ältere Geschlechtsgenossin, die drei Kinder mit zur Demonstration gebracht hat, droht dem Premierminister: „Du willst die Rentnerinnen verarmen? Die Frauen Frankreichs werden sich an dich erinnern.“ Einige Kanalarbeiter gehen noch weiter. Sie haben Jean-Pierre Raffarin bereits aufgeknüpft. Die lebensgroße Puppe baumelt über einem Bollerwagen. Darunter erklären Poster, dass die Franzosen dank Raffarin länger arbeiten, weniger verdienen und jung sterben sollen. Damit die Rentenkassen nicht austrocknen.

Es ist Muttertag in Frankreich. Und eine der größten sozialen Mobilisierungen seit Jahren. Mehrere hunderttausend Menschen aus dem ganzen Land sind seit Mittag in Paris unterwegs. Statt der ursprünglich vorgesehenen einfachen Demonstrationsroute flutet die Masse auf drei parallelen Routen. Stundenlang. Alle Branchen sind vertreten: Feuerwehrmänner in Uniform, Ãrzte und Krankenschwestern in Weißkitteln, Beschäftigte aus Chemie- und Autofabriken, und zigtausende Lehrer. Letzere demonstrieren nicht nur gegen die Rentenpolitik, sondern auch gegen die geplante Dezentralisierung. Erziehungsminister Luc Ferry will die Finanzierung der staatlichen Schulen zu einem Teil an die Regionen übergeben. Mit Gleichheit wäre es damit vorbei, argumentieren die Lehrer, von denen manche schon seit Wochen streiken. Es gäbe reiche Regionen mit guten Schulen und arme Regionen mit Verwahranstalten.

Die Stimmung in dieser neuen sozialen Bewegung, der vor wenigen Wochen noch niemand zugetraut hätte, dass sie so schnell so groß werden könnte, ist euphorisch. Alle Gewerkschaften sind vertreten. Die rote Fahne der einst kommunistischen CGT beherrscht das Bild. Doch überall sind auch Gruppen der GCFDT beteiligt. Die Führung ihrer Gewerkschaft hat vor ein paar Tagen einen „Kompromiss“ mit Arbeitsminister François Fillon unterzeichnet, gegen den Willen ihrer eigenen Basis und gegen den Willen der Mehrheitsgewerkschaften. Jetzt trägt ein Teil der CFDT-Basis wütende Transparente gegen den eigenen Generalsekretär durch das Land.

Ein Jahr nach ihrer schweren Wahlniederlage ist auch die Sozialistische Partei (PS) wieder da. Mitten in der Pariser Demonstration gibt Exarbeitsministerin Elisabeth Guigou Interviews über die „falsche Rentenpolitik der Regierung Raffarin“. Die Regierung der Sozialdemokratin hatte einst bei einem EU-Gipfel in Barcelona jener Rentenpolitik zugestimmt, die jetzt eine rechte Regierung in Paris umsetzt.

Die Hunderttausenden auf der Straße wissen, dass sie auf sich selbst angewiesen sind. Die sozialdemokratischen Parteien bieten keine Alternative. Und der Europäische Gewerkschaftsbund (EGB), dessen Spitzen sich heute in Prag treffen, schaut den Protesten in Österreich und Frankreich bloß zu. Die Entwicklung von Alternativen zur Finanzierung der Renten der Zukunft – vom EGB kommt das nicht.

Auffälliges Schweigen herrscht auch im Elyséepalast. Dort konzentriert sich Jacques Chirac auf den G-8-Gipfel, der am nächsten Wochenende unter höchster Sicherheitsstufe im ostfranzösischen Evian stattfinden und erstmals wieder Gegner und Befürworter des Irakkriegs an einen Tisch bringen wird. Doch sobald jenes internationale Gipfeltreffen vorbei ist, könnte die soziale Lage in Frankreich den Staatspräsidenten einholen. Ab dem 3. Juni drohen Eisenbahner, Straßenbahner und andere für das Funktionieren Frankreichs wichtige Branchen mit Streik. Unbefristet. DOROTHEA HAHN