Ein kribbelig unberechenbares Wunder

Jugendtheater auch für Erwachsene geeignet: Das Staatstheater Hannover – Abteilung Schauspiel – hat aus Adolf Muschgs Roman-Monument „Parzival. Der Rote Ritter“ eine Teenie-Love-Story mit Sinnsuche-Appeal gebastelt. Und dabei den Sänger Thomas Kürstner entdeckt

Dramatisieren ist die Kunst des Redigierens. Sinnvolles Einkürzen und Einem-neuen-Kontext-Einverleiben. So wie auch auf dieser Seite von den Texten, wie sie geschrieben wurden, stets nur ein Bruchteil zu lesen ist, weil sie ins Layout eingepasst werden. Nur Komplexitäts-Fanatiker und Edelfedern rümpfen die Nase – alle anderen freuen sich über den Gewinn durch kompakte Form.

So auch jetzt bei der Uraufführung am Schauspiel Hannover: 992 Buchseiten von Adolf Muschgs Parzival. Der Rote Ritter werden zu zweieinhalb Theaterstunden herunterredigiert. Was in diesem Fall so geht: Man nimmt das erste Wort des Romans, streicht die nächsten, nimmt das 149., streicht vier Zeilen, übersetzt „qui vive“ mit „wer seid ihr“ und „wie seid ihr über die Mauern?“ mit „wie kommt ihr hier rein?“ Man meint fast zu hören, wie sich der Cursor der Dramatisierung durch die Zeit-, Realitäts- und Bedeutungs-Ebenen des Muschg-Textes frisst. Und es ist beeindruckend, wie sich das differenziert gezeichnete Personal, die vielschichtigen Situationen sowie die kunstvoll entwickelte Handlung als Teenie-Love-Story mit Sinnsuche-Appeal in eine dialogische Struktur überführen lässt. Nur die mythologischen Namen wirken noch, als ginge es um mehr, als vom Frühlingserwachen der Identität zu erzählen. Jugendtheater – auch für Erwachsene.

Los geht’s mit Anbaggern wie auf’m Schulhof: Sigune und Schionatulander doppeln auf der Diener-Ebene die Gefühle ihrer Arbeitgeber. Das sind Herzeloyde (Isabelle Menke) und Gahmuret (Christian Erdmann). Sie will einen Mann. Er zeltet in der Nähe. Seine verlotterte Weltenbummlergestalt macht die gestrenge Herrscherin mit Pagenschnitt total an. Ab in sein schwarzes Zelt, ins Heiligste, auf dem Zentrum des Platzes. Als die Orgasmus-Parodie ertönt, riskiert Sigune einen sehnsuchtsvollen Blick: „Gruß vom Gral“, sagt sie. Und verrät so, was dies für ein Ding ist, das man nur finden kann, wenn man es nicht sucht: die Liebe. Immer ein Geschenk, ein kribbelig unberechenbares Wunder. Dem das Parzival-Baby entspringt, um eben diese Gralsweisheit neu zu entdecken.

Clemens Schick beginnt die Rolle als zappelige Schrei-Nummer, präsentiert zu funky Grooves Männerposen, entdeckt seinen Schwanz, erkundet aber auch fragend die Welt: Was ist das, Tod und Gott und Gut und Böse? Bis er einem Ritter begegnet wie andere einem Lokomotivführer. Fortan weiß Parzival, was er will. Die rote Ledermontur des Motorradritters holt er sich, wobei er leider zum Mörder wird. Da Mutter „greif zu“ gefordert hatte, wenn er die Gunst eines edlen Frolleins erringen wolle, greift er zu – und wird zum Vergewaltiger. Aus Nachlässigkeit vergisst er, Amfortas zu erlösen. Und wird er zum Versager, um in den Augen seiner Condwir Amurs den Gral aufblitzen zu sehen.

Steht alles auch so bei Muschg. Ebenso die nebenher mitlaufende Abrechnung mit einer Welt, der Normen und spirituelle Orientierung abhanden gekommen sind. Die Elite am Artushof ist zur Partygesellschaft verkommen, die Gralsjünger erheben ihr Leiden am Leben zur Religion, und die grau beanzugte Welt des Lähelin exekutiert den merkantilen Geist des Bürgerlichen. Parzival muss den Idealisten abgeben gegen die Vertreter dieses Money-Materialismus. Denn die Lähelins könnten zwar den Artushof mieten, um Abenteuerurlaub zu veranstalten. Aber der Gral ist nicht käuflich, sonst wäre er nicht der Gral.

Das Pfiffige der Inszenierung Stefan Ottenis: Lähelein, der Böse, wird von Matthias Neukirch ausgesprochen liebenswürdig gespielt, Parzival nervtötend pubertär. Um so auch Muschgs Appell, Schwarzweißmalerei in bunter Vieldeutigkeit aufzulösen, gerecht zu werden. Auch Muschgs auktoriales Trio findet eine schöne Entsprechung auf der Bühne. Begleitet von mittelalterlichem Geharfe und kratzig modernem Violinieren, erleichtert Sänger Thomas Kürstner mit hintergründigen Kommentaren Szenenübergänge, verschafft im milde poetischen Schnodderton Distanz aus sanft romantischer Diesseits-Perspektive: hinreißend. Ovationswürdig. Und entsprechend gefeiert. Jens Fischer

Schauspiel Hannover: „Der Rote Ritter“ nach Adolf Muschg. Aufführungen: 2., 14., + 17.4., jeweils 19.30 Uhr. Karten: ☎ (05 11) 99 99 11 11