Europa wählt die Türkei

Vorher bedrohte Sertab Ereners Song „Everyway That I Can“ die „nationale Identität“. Nun weist er den Weg nach Europa

„Die türkischen Menschen werden verstehen, dass wir uns öffnen müssen“

aus Riga JAN FEDDERSEN

Es kam auf das letzte Televotingresultat aus Slowenien an. Als Belgien nur drei Punkte erhielt und die Türkei zehn, konnten auch die zwölf Zähler für die Russinnen von t.a.T.u. nicht mehr verhindern, dass die Türkei erstmals den Grand Prix Eurovision gewinnt. Sängerin Sertab Erener war „ein bisschen geschockt, aber so genau konnte ich nicht aufpassen, wie ich mich fühle, denn ich musste ja auf die Bühne“. Mit einer furiosen Show ihres HipHop-angereicherten Orientaldancestücks mit dem Titel „Everyway That I Can“ beendete die Musikstudentin aus Istanbul den Contest glücklich. Danach tanzte sie „bis halb sieben in der Hotellobby“, wie sie am Sonntagmittag berichtete.

Höchstwertungen erhielt sie aus Bosnien-Herzegowina, den Niederlanden, Belgien, dazu je zehn Zähler aus Kroatien, Deutschland, Norwegen, Frankreich, Rumänien, Slowenien. Ignoriert wurde das Lied von Irland, Russland, Lettland und Estland – allesamt Nationen, die sich bislang orientalischen Einflüssen verweigerten. Überraschend üppig bedachten auch Zypern und Griechenland ihren Nachbarn mit Punkten. Aus Nikosia gab es acht, aus Athen sieben Zähler.

Da bis auf Russland und Bosnien-Herzegowina alle Länder per Volksabstimmung werteten (Televoting), darf dies als Signal genommen werden: Die Türkei wird beim Volk offenbar viel stärker als Teil des „europäischen Konzerts“ (Eurovisionssprecherin Sarah Yuen) wahrgenommen, als die politischen Eliten des mittleren Europa wahrhaben wollen.

Um zu gewinnen, musste Sertab Erener allerdings ihrem Land etwas zumuten, was es teilweise als „Gefahr für die nationale Identität“ (Hürriyet vor einer Woche) betrachtet hatte: Die Eurovisionssiegerin wollte partout ihr Lied nicht auf Türkisch vortragen. „Ich hätte sonst keine Chance gehabt. Englisch ist die Sprache der modernen Musik. Die Menschen in meinem Land werden verstehen, dass wir uns öffnen müssen.“

Seit 1975 nimmt die Türkei an der Eurovision teil – und belegte beim Debüt mit null Punkten gleich den letzten Platz. Meist schickte das Land Songs ins Rennen, die sich dem restlichen Europa nur als türkischtümelnd erschlossen. Um einen ästhetischen Vergleich zu ziehen: Bis zu Sertab Erener war es häufig so, als hätte Deutschland Jahr für Jahr die Wildecker Herzbuben ins Grand-Prix-Rennen geschickt.

Wobei Erener und ihr Team ohnehin ein eher türkisch-deutsch-österreichisches Projekt waren: Ihre Tänzerinnen hören auf die schönen Namen Özge Fiskin, Anja von Geldern, Claudia Kraxner und Christina van Leyen – allesamt ausgebildet an einer Wiener Showakademie; die eine Türkin, zwei andere haben einen deutschen Pass und eine von ihnen ist Österreicherin. Zwei Wochen übte das Quintett in Wien die filigrane Choreografie – und darf sich für die Mühe belohnt fühlen. Erener: „Mein Lied wird in allen europäischen Ländern veröffentlicht. Nun hoffe ich, dass ich kein One-Hit-Wonder werde.“ In Istanbul erwartete sie gestern Abend ein Empfang vor Tausenden von Menschen – was andeutet, dass die Sopranistin zur Volksheldin wird: Eine, die ihr Land womöglich ein bisschen mit Europa versöhnen kann. „Unsere Lieder werden wir weiter auf Englisch singen. Man versteht uns einfach besser.“

Unter dieser Entwicklung hat das britische Duo von Gemini gelitten. Erstmals in der Contestgeschichte belegte das Vereinigte Königreich den letzten Platz. So abgestraft wurde das Mutterland des Pop noch nie. Null Punkte. Ob es an dem öden „Cry Baby“-Gewimmer lag, an der fehlenden Stimme der Sängerin oder an Tony Blairs „Koalition der Willigen“? In puncto Großbritannien zeigte sich die Eurovisionsgemeinde jedenfalls mitleidlos.

Die zweitplatzierten Belgier Urban Trad bewiesen, dass man mit ethnoangereichertem Folk und bar aller Happy-Go-Lucky-Anmutung nicht verlieren muss. t.a.T.u. hingegen, also die angeblich lesbischen Julya und Lena aus Russland, zeigten, wie man mit der Idee des Skandals spielt. Noch am Sonnabend weigerte sich die eine, zur Generalprobe anzutreten, weil sie unter einer Grippe leide. Am Abend selbst war sie wieder genesen, was an allem gelegen haben kann, vielleicht an Medikamenten. Die Buhrufe in der Halle waren unfair, denn die beiden zeigten mit ihrer Show, wohin sich der Grand Prix entwickeln wird: Zum Festival des Europop, bei dem versagt, wer nur die ästhetischen Wünsche in der tümelnden Heimat bedienen will.

Lena und Julya waren auch deshalb grandios, weil sie eben nur andeuteten, was man ihnen sabbernd unterstellte: Dass sie sich sexuell stimulierend auf der Bühne verhalten würden. Der Clou: Ein so tastendes Vorspiel, ein so zartes, doch entschiedenes Aufeinanderzugehen wie beim Auftritt der beiden hat man selten im Fernsehen gesehen.

Der NDR freute sich im Übrigen über eine exzellente Quote. Knapp neun Millionen wollten in der ARD den Grand Prix sehen. Das entspricht einem Marktanteil von 38,8 Prozent. Befürchtungen, die Kandidatin Lou mindere das Interesse, waren offenbar unnötig.