Die Symbolkraft des Tuches

betr.: „Zwei Gesichter unterm Tuch“ von Heide Oestreich, taz.mag vom 27. 3. 04

Frau Oestreichs Intention, basierend auf den Untersuchungen von Frau Karakasoglu gegen das Vorurteil „Kopftuch = unterdrückt“ anzuschreiben, ist begrüßenswert. Durch die Ausführungen nicht außer Kraft gesetzt wird jedoch meiner Ansicht nach die Symbolkraft des Tuches, nämlich dass Frauen ihre Reize zu verstecken haben, anstatt dass Männer lernen, ihren (angeblich ach so) Testosteron-geschüttelten Haushalt zu kontrollieren. Vom „verantwortungsbewussten Umgang mit Weiblichkeit“ ist im Text die Rede – eine Argumentation, die mich schal an die frauenverachtenden Schiedssprüche erinnert, die (auch in Deutschland) immer noch gefällt werden: „Sie trug einen Minirock? Dann ist sie selbst schuld, dass sie vergewaltigt wurde!“

Wenn darüber hinaus erklärt wird, dass frau als Mensch wahrgenommen werden möchte und nicht bloß aufgrund ihrer äußeren, weiblichen Reize und deshalb zum Tuch gegriffen werden muss, dann sind Männer erst einmal einer Verantwortung enthoben, die ihnen eigentlich ebenso obliegt wie dem weiblichen Geschlecht. Das für mich eigentlich Perfide an dieser andauernden Streitfrage ist jedoch die Tatsache, dass sich mit den gleichen Argumenten, wie sie hier von Frau Oestreich für das „Stückchen Stoff“ zusammengetragen werden, auch einem ganzen Stoffballen das Wort reden lässt: der Burka. Werden wir also in einigen Jahren darüber diskutieren, ob eine Ganzkörper-verschleierte Frau an deutschen Schulen unterrichten darf? Wo ist hier die Grenze?

Ich möchte mich nicht falsch verstanden wissen. In meiner Funktion als Fremdsprachenlehrerin arbeite ich selbst aktiv an der Gestaltung des interkulturellen Dialogs. Trotzdem will es mir nicht in den (unverhüllten) Kopf, warum wir uns so schwer damit tun, selbstbewusst gewisse Werte zu verteidigen, wenn sie doch als gut befunden – ganz so, wie es die Feministinnen aus den islamisch geprägten Kulturkreisen auch tun? Haben unsere (Ur-)Großmütter und Mütter denn zum Spaß gegen die „züchtige“ Bekleidung der Frau gekämpft? Ich denke das nicht. Und dieses kulturelle Erbe möchte ich auch für meine Kinder tradiert wissen. Dass neben dieser meiner Auffassung auch noch andere Strategien existieren, mit den Energien zwischen den Geschlechtern umzugehen, werde ich (und der Alltag) ihnen ebenfalls vermitteln. Die Schule aber hat – wie jede andere öffentlich-staatliche Institution auch – die Aufgabe, die freiheitlich demokratischen Grundsätze unseres Staates zu repräsentieren und als Werte zu vermitteln. Und die basieren in unserem Land nun mal nicht auf der Geschlechtertrennung und auf einem „verantwortungsbewussten Umgang mit Weiblichkeit“, sondern auf dem Prinzip des verantwortungsbewussten, gleichberechtigten und natürlichen Miteinanders von Mann und Frau sowie – es sei der Vollständigkeit halber hier erwähnt – der Trennung von Kirche und Staat.

REBECCA JUNG, Essen