DER FRANZÖSISCHE PRÄSIDENT IGNORIERT DEN WILLEN DER WÄHLERINNEN
: Chirac zeigt den Stinkefinger

Die FranzösInnen haben sich bei den Regionalwahlen für mehr soziale Gerechtigkeit und gegen Einsparungen auf dem Rücken der sozial Schwächsten ausgesprochen. Sie haben damit fortgesetzt, was sich schon zuvor in Form von Streiks, Demos und Petitionen gezeigt hatte: Die Franzosen wollen ihre sozialen Errungenschaften – von der Rente bis zur Gesundheitsversorgung – verteidigen.

Der Staatspräsident, der in Frankreich Regierungen einsetzt und abberuft, reagiert darauf so: Er beauftragt den alten Premierminister mit der Bildung einer neuen Regierung. Er behält die Männer aus den alten Schlüsselpositionen und gibt ihnen neue Ämter. Er schmeißt die wenigen VertreterInnen, die nicht aus seiner Partei sind, sowie die Mitglieder der „Zivilgesellschaft“ und die meisten Frauen heraus.

Das ist zynisch. Jacques Chirac zeigt den französischen WählerInnen den Stinkefinger. Mit einer Kehrtwende oder zumindest einem Innehalten in der Sozialkahlschlagspolitik hat es nichts zu tun.

Der Präsident verhält sich gegenüber den WählerInnen so, wie sich die rechte Regierung zuvor gegenüber den sozialen Bewegungen verhalten hat: Er lässt sie gegen die Wand laufen. Lehren aus ihrem Votum zieht er nicht. Formal hält er sich damit an die institutionellen Regeln. Politisch jedoch spielt er mit dem Feuer: Er vergrößert den sozialen Bruch, den er einst selbst zu bekämpfen vorgab. Er brüskiert die WählerInnen – darunter nicht nur linke, sondern auch jene rechten, die in den vergangenen Tagen eine Kurskorrektur verlangt haben. Und er provoziert neue, möglicherweise härtere Protestbewegungen.

Der Staatspräsident war im April 2002 von nicht einmal 20 Prozent der FranzösInnen gewählt worden. Die zusätzlichen 62 Prozent WählerInnen stimmten im zweiten Durchgang jener dramatischen Präsidentschaftswahlen, bei denen ein Rechtsextremer die einzige „Alternative“ war, nicht etwa für Chirac, sondern für die Republik. Den „republikanischen Pakt“ mit jenen Millionen WählerInnen hat die Regierung schon in den vergangenen Monaten vielfach verletzt. Jetzt ist Chirac dabei, ihn ganz zu verraten. Das wird sich über kurz oder lang rächen. DOROTHEA HAHN