Durchgeblättert: die Bremer Anthologie

Der Wüstensohn

„Es ist so kalt, so kalt“, sagt der junge Mann, „was ich nicht verstehe: Warum leben die Menschen hier, wo es so kalt ist? Warum gehen sie hier nicht weg, weiter nach Süden?“

Es ist halb zehn, es ist dunkel, wir warten an der Domsheide. Die 4 kommt, wir steigen ein. Während wir über die Brücke fahren, erzählt er mir: „Es ist so anders hier, die Lichter, die Geräusche, die Abgase in der Luft, es ist so erregend hier für einen Wüstensohn.“

Er ist aus der Westsahara und studiert hier. Er spricht fließend Deutsch, akzentfrei.

Manchmal hat er Heimweh. Aber – da auch: „Warum leben die Menschen da, wo kein Baum ist, wo kein Gras wächst? Warum gehen sie da nicht weg?“

„Ich bin ein glücklicher Mann“, sagt er – und ein offenes Lächeln macht sein schmales Gesicht schön: Irgendwo in der Wüste, tausend Meilen von jeder bewohnten Gegend, blüht eine Rose für ihn. Betet eine Frau für ihn. Jeden Tag, fünfmal am Tag. Heide Marie Voigt

aus: Bremer Anthologie, Donat Verlag, 125 Seiten, 12,80 Euro