„Ich lebe bescheiden – dennoch im Minus“

taz-serie „Auf Schröders Agenda“ (Teil 1): Barbara Tietjen – Anglistin, Politologin, Schreinerin, 49, allein erziehend. Seit der Geburt ihrer Tochter pendelt sie zwischen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen und Arbeitslosigkeit. Hartz hat sie noch verstanden. Die Agenda 2010 heißt für sie: Jetzt sind wir egal

von WALTRAUD SCHWAB

Contenance – die Kunst des An-sich-Haltens – nie hätte die Schwarzgurtträgerin gedacht, dass sie Körperbeherrschung wie ein Schutzschild um sich trägt. Von außen setzt sie auf Normalität. Attraktivität. Bei sich sein. In Leinenrock, Jacke und Seidenschal signalisiert sie Klasse. Ihre Haare sind gefärbt, die Augen geschminkt. Alles ist eine Frage der Perspektive. Niemand soll ihre Abgründe sehen, die innen sind, die nur sie kennt: Angst vor dem Absturz. Arbeitslosigkeit, die nie mehr endet.

Barbara Tietjen (Name geändert) hat viel gemacht in ihrem Leben. Anglistik und Politik studiert. Mit Magister. Im Anschluss daran hat sie eine Schreinerlehre beendet. Danach hat sie sich vom 80er-Jahre-Aufbruch in Berlin sozialisieren lassen: Ökologiebewegung, Frauenbewegung, Projektebewegung. In einem Berliner Frauenzentrum hat sie eine Werkstatt aufgebaut und dann zusammen mit anderen eine Frauensportetage aus der Taufe gehoben. Mit Selbstverteidigung hat alles angefangen. Tietjen gab die ersten Kurse. Das Motto damals: Blockaden abbauen. „Frauen brüllen nicht, sie schlagen nicht zu. Sie erstarren im Angesicht der Gefahr“, sagt Tietjen. Sie hat ihnen geholfen, ihren Kanincheneffekt zu überwinden. Sie kann so viel. Damals, da wurde sie gebraucht. In den 80er-Jahren galt: Mitbestimmung ohne Ende. Vermittlung ohne Ende. Alle müssen lehren und lernen zugleich. Für die Gruppenspielerin, die Tietjen immer war, ideales Terrain. Nun aber, in Zeiten der Ich-AG, ist Teamgeist nicht mehr gefragt. Diesen Herbst wird sie 50. Sie ist arbeitslos.

Der Mauerfall 1989 setzte nicht nur in den DDR-Biografien, sondern auch in Tietjens Leben eine Zäsur. Die Westberliner Alternativ-Idee ging in der Goldgräberstimmung, die die BRD nach der Wende erfasste, unter. Nun galten Konkurrenz und Kommerz. „Wer einigermaßen denken konnte, wusste das“, sagt die gebürtige Bremerin. Plötzlich wurden aus Hausbesetzern Unternehmer, aus Marxisten Broker, aus Punksängerinnen PR-Beraterinnen. Für alle, die wie Tietjen nicht auf diesen Zug aufsprangen, begann die ABM-Laufbahn. Damals war sie 36. Und kurze Zeit später schwanger.

Kaum war ihre Kleine drei Monate alt, wurde sie einer Tagesmutter anvertraut. Tietjen, die sich immer Kinder gewünscht hatte „mit sicherem Griff zum falschen Partner“, wie sie resümiert, wusste, dass allein stehenden Müttern die Tür zum Abseits besonders schnell geöffnet wird. „Allein erziehen ist einfach scheiße. Einfach scheiße“, sagt sie.

Seit zwölf Jahren wechseln sich Arbeitslosigkeit und Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in Tietjens Leben ab. Jede ihrer ABM ist mit Fortbildungen, Extra-Qualifikationen und Zusatzstudien verbunden. Was hat sie nicht alles gelernt: Mitarbeiterführung und Management, Büroorganisation und PR-Beratung, Website-Publishing und Mediation. Bei jeder neuen Stelle hofft sie, dass ihre Fähigkeiten auf fruchtbaren Boden fallen, dass sie gefragt ist. Es gelingt ihr nicht. Auch nicht, als sie Bildungsarbeit für die Gewerkschaft machen kann. Je schneller sich die „Maßnahmenspirale“ dreht, desto klarer wird der Teamarbeiterin, dass ihre Leidenschaft für Zusammenarbeit nicht mehr gewünscht ist. „Selbst die Gewerkschaft meinte nicht mich, sondern die Drittmittel, die mit meiner ABM-Stelle verknüpft waren.“

Die Zeiten der Arbeitslosigkeit sind für Tietjen nur schwer zu ertragen. Sie nutzt sie für private Studien. Grundschulpädagogik hat es ihr angetan. Aber als arbeitslos Gemeldete darf sie sich nicht an der Universität einschreiben. „Eine politische Dummheit sondergleichen“, findet sie. Mit den Arbeitslosen, aber auch mit Leuten, die auf Sozialhilfe sind, müssten individuelle Ausbildungswege erarbeitet werden, die ein Studium nicht ausschließen, meint Tietjen. Sollten sich zwischendurch Erwerbsmöglichkeiten ergeben, müssten Lösungen gefunden werden, die das bereits Gelernte so berücksichtigen, dass später daran angeknüpft werden kann. „Mit meinen Vorerfahrungen hätte mir ein verkürzter Weg zum Grundschullehramt ermöglicht werden müssen. Lächerlich, dass ich dafür hätte von vorne anfangen müssen zu studieren.“ Stattdessen wird sie durch Bewerbungstrainings geschleust. Und weil zur Arbeitslosigkeit auch Trennung vom Partner, Lebenskrise und Depression kommen, wird ihr eine Therapie bezahlt. „Wer ist krank? Ich oder die Gesellschaft?“

Und heute: „Ich bin gut qualifiziert“, sagt sie. „Trotzdem bekomme ich Absage auf Absage. Überall wird mir signalisiert: Sie sind zu alt.“ Seit fünf Monaten ist sie wieder arbeitslos. Dieses Mal war der Schock größer. „Hartz, das hab ich noch verstanden. Da hatte ich das Gefühl, es geht um die Arbeitslosen. Aber die Agenda 2010, da weiß ich: Jetzt sind wir ihnen egal. Hauptsache wir kosten wenig“, bricht es aus ihr heraus. „Wenn Leute über 50 nicht mehr beschäftigt werden, aber bis 67 arbeiten sollen – da spart man am Ende Rente. Ich würde gerne bis 67 arbeiten. Eigentlich sind wir fit genug. Aber es muss auch Arbeit geben.“ Und nach einer kurzen Pause: „Diese Erfahrung mit der Arbeitslosigkeit und den Bewerbungen auf passende Stellen, die ich nicht kriege, das halte ich nicht mehr aus. Die ganze Zeit zu Hause rumzuhocken, das halte ich nicht mehr aus. Individualisierung, die hat bei mir einfach ’ne Grenze.“

Während ihrer Depression hat ihr Kind sie gehindert, sich fallen zu lassen. Dieses Mal, das merkt sie, hält ihre Tochter nicht mehr so stark dagegen. Das Mädchen bräuchte sie, es macht gerade einen Schulwechsel durch. Aber es deprimiert Tietjen, dass das Kind mittlerweile versteht, dass sie nicht die starke Mutter ist. Unvermittelt drückt sie das persönliche Manko, das sie spürt, konkret aus. „Ich lebe bescheiden, aber trotzdem bin ich im Minus. Im Café einen Espresso trinken und dabei Zeitung lesen, um die Zeitung zu sparen – nicht einmal mehr das ist drin. Urlaub – vielleicht eine Radtour in Mecklenburg – gestrichen.“ Und dann die Frage, die sich die Agenda-2010-Konstrukteure stellen müssten: „Ist es schon ein gutes Leben, wenn wir nicht verhungern?“

Tietjen nimmt mittlerweile jeden Job an. Für einen Monat im Kindergarten aushelfen. Gut. Ihr Lohn liegt in der Höhe des Arbeitslosengeldes. Egal. „Es tut mir gut. Ich weiß, was ich zu tun hab, wenn ich morgens aufstehe. Ich brauche einen Job. Das gibt mir Struktur.“ Sie macht alles. Auch weil sie glaubt, dass man es sich einfach nicht mehr leisten kann, einen Job abzulehnen. „Was danach kommt?“, fragt sie. Eine Antwort gibt ihr niemand.