Die Machtfrage bleibt ausgespart

Der Verfassungsentwurf der EU enthält zahlreiche Kompromisse – und bekommt vielleicht gleich zwei Präambeln

BRÜSSEL taz ■ Die Journalisten, die sich gestern im EU-Parlament drängten, um ein druckfrisches Exemplar des Verfassungsentwurfs zu ergattern, trauten ihren Augen nicht: Die mit Spannung erwartete Präambel fehlt, weil sich das Präsidium nicht einigen konnte, ob ein Verweis auf die christliche Tradition der Verfassung voranstehen soll. Konventspräsident Giscard d’Estaing ist – getreu der laizistischen Tradition in Frankreich – strikt dagegen.

Ähnliche Auseinandersetzungen hatte es bereits vor drei Jahren bei der Grundrechte-Charta gegeben. Sie soll nun als Teil zwei der Verfassung ohne Änderungen übernommen werden – inklusive ihrer eigenen Präambel: „Im Bewusstsein ihres geistig-religiösen und sittlichen Erbes gründet sich die Union auf die unteilbaren und universellen Werte der Würde des Menschen, der Freiheit, der Gleichheit und der Solidarität.“ Setzt sich diese Konstruktion tatsächlich durch, wird die EU-Verfassung wahrscheinlich die erste weltweit, die zwei Präambeln hat.

Halbherzige Kompromisse wie dieser ziehen sich durch den ganzen Text. Nach dem Motto „Papier ist geduldig“ ist der Artikel 3, der die Ziele der Union beschreibt, um all die Punkte verlängert worden, die dem Plenum des Konvents am Herzen liegen: Nachhaltige Entwicklung, soziale Marktwirtschaft, Vollbeschäftigung, sozialer Fortschritt, hohes Umweltschutzniveau. „Die Union bekämpft soziale Ausgrenzung und fördert Gerechtigkeit und sozialen Schutz, Gleichheit zwischen Frauen und Männern, Generationensolidarität und Kinderrechte“, heißt es im dritten Abschnitt.

Dagegen ist in Artikel 1, der die Gründung der Union beschreibt, das Reizwort „föderal“ durch „gemeinschaftlich“ ersetzt worden – klare Konzession an die Briten und andere Euroskeptiker im Konvent. Die Machtfrage bleibt ausgespart. Der Entwurf übernimmt lapidar das ursprüngliche Modell mit einem auf zweieinhalb Jahre gewählten Ratspräsidenten, einem Kongress der Völker und dem EU-Außenminister, als hätte es die heftigen Diskussionen im Plenum nie gegeben. „Die Änderungsvorschläge gehen häufig in entgegengesetzte Richtungen“, schreibt das Präsidium an die Konventionalisten. Deshalb seien weitere Debatten nötig.

„Das Präsidium sieht seine Rolle falsch – es versucht die Positionen der Mitgliedsstaaten von vornherein zu berücksichtigen“, wettert der konservative Europaabgeordnete und Konventsdelegierte Elmar Brok. „Das Präsidium soll die Anregungen des Plenums in Texte übersetzen – diese Funktion erfüllt es nicht“, kritisiert der sozialistische Luxemburger Abgeordnete Ben Fayot. Seiner Ansicht nach hätten einige den Konvent schon abgeschrieben und blickten nun Richtung Regierungskonferenz, die den endgültigen Text im Kreis der Staats- und Regierungschefs aushandeln soll.

„Wenn der Konvent am Freitag nicht rebelliert, ist die Sache gescheitert“, sagt Elmar Brok. Viel wird davon abhängen, ob die Delegierten sich mit der Forderung durchsetzen, bis in den Juli hinein zu tagen. Der griechische Außenminister Papandreou, der selbst im Konvent sitzt, hält eine solche Verlängerung für möglich. Aus griechischen Regierungskreisen heißt es aber, man rechne weiter fest damit, in Thessaloniki beim Gipfel am 20. Juni den kompletten Entwurf vorgelegt zu bekommen.

Bis dahin muss auch die neue Präambel fertig sein. Konventspräsident Giscard d’Estaing möchte, dass sie seine Handschrift trägt. Da er die Forderungen des Vatikan bislang wohlwollend aufgenommen hat – dem speziellen Status der Kirchen ist ein eigener Artikel gewidmet worden –, wird er sich vielleicht zu einem Satz über das christliche Erbe durchringen.

DANIELA WEINGÄRTNER